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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Hessinnen der Familie Claudius hat angedeihen lassen, ebenso gering wie von
der Klatsch- und Verlemudnngssucht unserer theuren Zeitgenossen. Und eine
Ehrenrettung dieses Schlages würde am allerwenigsten ein historisches Drama
zieren. Aber Kruse hat ernstlich danach gestrebt, das Räthsel, das die Tra¬
gödie "Marino Faliero" in der Gestalt des Verleumders Michel Steno bietet,
zu lösen. Er hat in ihm den Typus des herrschenden, aber auch in eminenten
Sinne regierungsfähigen Adels hingestellt. In dem gewaltigen Wachsen Stenos
mit den höheren Zwecken, die dem jungen Manne anvertraut werden, hat der
Dichter auch deutlich gezeigt, daß die Empörung des Dogen gegen Standes¬
genossen, die solche Männer wie Steno in ihren Reihen zählten, doch ein sehr
thörichtes und sträfliches Unternehmen gewesen sei. Und so kommt auch die
historische Gerechtigkeit bei Kruse nicht ganz so zu kurz, wie bei seinen Vorgängern,
die denselben Stoss behandelten. Wir verlassen die Richtstätte des Dogen
keineswegs mit dem Bewußtsein, daß der tagende Morgen die Sonne über
einem herrscherlosen Staate heraufführen werde.

Michel Steno ist die größte Originalschöpfung des Kruseschen Dramas.
Das unvergängliche Grabbild der venetianischen Kirche tritt lebendig vor uus
hiu und wirkt von Scene zu Scene, von Act zu Act packender ans Leser,
Hörer, Zuschauer. Wir besitzen allerdings über die Geschichte Venedigs kein
solches Meisterwerk, wie Machiavell es über die Geschichte seiner Vaterstadt
Florenz hinterlassen hat, und das historische Dunkel, das auf dem Charakter
Stenos lastet, wird vielleicht niemals erhellt werden. So aber, wie Kruse es
darstellt, könnte sich dieser große Staatsmann entwickelt haben. Aus dem
übermüthigen Fant, der keinen Dogen und keine Weibertngend scheut, wächst
ein Krieger, ein Feldherr, ein Staatsmann von seltener Größe empor, der schon
am Ende des Stückes im Rathe, in dem das Todesurtheil über Faliero ge¬
sprochen wird, neben dem alten Juristen Tiepolo als der Einzige es wagt,
gegen das Todesurtheil zu sprechen und zu stimmen. Mag sich diese Wandlung
in Wirklichkeit auch nicht so rasch vollzogen haben, als hier, so hat doch der
Dichter verstanden, sie bis zu einem gewissen Grade uns glaubhaft zu entwickeln
und in Michel Steno eine seiner größten Bühnengestalten geschaffen.

Es war natürlich und durch die Rolle, die der geschichtliche Michel Steno
spielt, anch durchaus motivirt, daß der Dichter auch die einzigen Liebesscenen,
die sein Drama enthält, an diese kraft- und lebensvollste Gestalt seines Stückes
anlehnte.

An einer vollkommenen Freude hindert aber das Folgende. Asta, das
Hoffräulein der Dogaressa, ist Stenos Braut. Einer zweiten, Nerina, hat er
höflich schön gethan. Um Asta freit er, ohne Aussicht auf sichere Existenz. Er
besitzt nur Schulden und einen beerbungswnrdigen Onkel, der an die Erbschaft


Hessinnen der Familie Claudius hat angedeihen lassen, ebenso gering wie von
der Klatsch- und Verlemudnngssucht unserer theuren Zeitgenossen. Und eine
Ehrenrettung dieses Schlages würde am allerwenigsten ein historisches Drama
zieren. Aber Kruse hat ernstlich danach gestrebt, das Räthsel, das die Tra¬
gödie „Marino Faliero" in der Gestalt des Verleumders Michel Steno bietet,
zu lösen. Er hat in ihm den Typus des herrschenden, aber auch in eminenten
Sinne regierungsfähigen Adels hingestellt. In dem gewaltigen Wachsen Stenos
mit den höheren Zwecken, die dem jungen Manne anvertraut werden, hat der
Dichter auch deutlich gezeigt, daß die Empörung des Dogen gegen Standes¬
genossen, die solche Männer wie Steno in ihren Reihen zählten, doch ein sehr
thörichtes und sträfliches Unternehmen gewesen sei. Und so kommt auch die
historische Gerechtigkeit bei Kruse nicht ganz so zu kurz, wie bei seinen Vorgängern,
die denselben Stoss behandelten. Wir verlassen die Richtstätte des Dogen
keineswegs mit dem Bewußtsein, daß der tagende Morgen die Sonne über
einem herrscherlosen Staate heraufführen werde.

Michel Steno ist die größte Originalschöpfung des Kruseschen Dramas.
Das unvergängliche Grabbild der venetianischen Kirche tritt lebendig vor uus
hiu und wirkt von Scene zu Scene, von Act zu Act packender ans Leser,
Hörer, Zuschauer. Wir besitzen allerdings über die Geschichte Venedigs kein
solches Meisterwerk, wie Machiavell es über die Geschichte seiner Vaterstadt
Florenz hinterlassen hat, und das historische Dunkel, das auf dem Charakter
Stenos lastet, wird vielleicht niemals erhellt werden. So aber, wie Kruse es
darstellt, könnte sich dieser große Staatsmann entwickelt haben. Aus dem
übermüthigen Fant, der keinen Dogen und keine Weibertngend scheut, wächst
ein Krieger, ein Feldherr, ein Staatsmann von seltener Größe empor, der schon
am Ende des Stückes im Rathe, in dem das Todesurtheil über Faliero ge¬
sprochen wird, neben dem alten Juristen Tiepolo als der Einzige es wagt,
gegen das Todesurtheil zu sprechen und zu stimmen. Mag sich diese Wandlung
in Wirklichkeit auch nicht so rasch vollzogen haben, als hier, so hat doch der
Dichter verstanden, sie bis zu einem gewissen Grade uns glaubhaft zu entwickeln
und in Michel Steno eine seiner größten Bühnengestalten geschaffen.

Es war natürlich und durch die Rolle, die der geschichtliche Michel Steno
spielt, anch durchaus motivirt, daß der Dichter auch die einzigen Liebesscenen,
die sein Drama enthält, an diese kraft- und lebensvollste Gestalt seines Stückes
anlehnte.

An einer vollkommenen Freude hindert aber das Folgende. Asta, das
Hoffräulein der Dogaressa, ist Stenos Braut. Einer zweiten, Nerina, hat er
höflich schön gethan. Um Asta freit er, ohne Aussicht auf sichere Existenz. Er
besitzt nur Schulden und einen beerbungswnrdigen Onkel, der an die Erbschaft


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[0228] Hessinnen der Familie Claudius hat angedeihen lassen, ebenso gering wie von der Klatsch- und Verlemudnngssucht unserer theuren Zeitgenossen. Und eine Ehrenrettung dieses Schlages würde am allerwenigsten ein historisches Drama zieren. Aber Kruse hat ernstlich danach gestrebt, das Räthsel, das die Tra¬ gödie „Marino Faliero" in der Gestalt des Verleumders Michel Steno bietet, zu lösen. Er hat in ihm den Typus des herrschenden, aber auch in eminenten Sinne regierungsfähigen Adels hingestellt. In dem gewaltigen Wachsen Stenos mit den höheren Zwecken, die dem jungen Manne anvertraut werden, hat der Dichter auch deutlich gezeigt, daß die Empörung des Dogen gegen Standes¬ genossen, die solche Männer wie Steno in ihren Reihen zählten, doch ein sehr thörichtes und sträfliches Unternehmen gewesen sei. Und so kommt auch die historische Gerechtigkeit bei Kruse nicht ganz so zu kurz, wie bei seinen Vorgängern, die denselben Stoss behandelten. Wir verlassen die Richtstätte des Dogen keineswegs mit dem Bewußtsein, daß der tagende Morgen die Sonne über einem herrscherlosen Staate heraufführen werde. Michel Steno ist die größte Originalschöpfung des Kruseschen Dramas. Das unvergängliche Grabbild der venetianischen Kirche tritt lebendig vor uus hiu und wirkt von Scene zu Scene, von Act zu Act packender ans Leser, Hörer, Zuschauer. Wir besitzen allerdings über die Geschichte Venedigs kein solches Meisterwerk, wie Machiavell es über die Geschichte seiner Vaterstadt Florenz hinterlassen hat, und das historische Dunkel, das auf dem Charakter Stenos lastet, wird vielleicht niemals erhellt werden. So aber, wie Kruse es darstellt, könnte sich dieser große Staatsmann entwickelt haben. Aus dem übermüthigen Fant, der keinen Dogen und keine Weibertngend scheut, wächst ein Krieger, ein Feldherr, ein Staatsmann von seltener Größe empor, der schon am Ende des Stückes im Rathe, in dem das Todesurtheil über Faliero ge¬ sprochen wird, neben dem alten Juristen Tiepolo als der Einzige es wagt, gegen das Todesurtheil zu sprechen und zu stimmen. Mag sich diese Wandlung in Wirklichkeit auch nicht so rasch vollzogen haben, als hier, so hat doch der Dichter verstanden, sie bis zu einem gewissen Grade uns glaubhaft zu entwickeln und in Michel Steno eine seiner größten Bühnengestalten geschaffen. Es war natürlich und durch die Rolle, die der geschichtliche Michel Steno spielt, anch durchaus motivirt, daß der Dichter auch die einzigen Liebesscenen, die sein Drama enthält, an diese kraft- und lebensvollste Gestalt seines Stückes anlehnte. An einer vollkommenen Freude hindert aber das Folgende. Asta, das Hoffräulein der Dogaressa, ist Stenos Braut. Einer zweiten, Nerina, hat er höflich schön gethan. Um Asta freit er, ohne Aussicht auf sichere Existenz. Er besitzt nur Schulden und einen beerbungswnrdigen Onkel, der an die Erbschaft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/228>, abgerufen am 23.07.2024.