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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Die Bulgaren.

Unter den Völkerschaften, welche bei den bevorstehenden Ereignissen auf
der Balknnhalbinsel zunächst in Betracht kommen, nehmen die Bulgaren durch
ihre Zahl die erste Stelle ein. Gerade von ihnen aber hat man unsrer Er¬
fahrung nach in Deutschland nur dürftige Kenntniß und eine wenig klare Vor¬
stellung, und so scheint ein Bericht über sie an der Zeit. Die Bulgaren, alt¬
slawisch Blugaru, serbisch Bngar, griechisch Bulgaroi, albanesisch Skjau und
rumänisch Skjeji genannt, sind ihrem Ursprünge nach keine Slawen. Sie sind
vielmehr ein Volk finnischen Stammes, welches einst eine Sprache redete, die
mit der madjarischen verwandt war, zugleich aber türkische Elemente in sich
aufgenommen hatte, so daß die Bulgaren, als sie zuerst in die Geschichte ein¬
traten, wahrscheinlich ein Mischvolk, zusammengesetzt ans finnischen und türkischen
Bestandtheilen waren. Gegen das Ende der Völkerwanderung brachen sie von
der Wolga, wo sie neben den Chazaren gewohnt, nach Bithynien und Moslem
auf und drangen selbst bis nach Italien vor. Sie mischten sich auf diesem Zuge
mit deu slawischen Anten und nahmen in Bithynien schon im achten, in Moslem
im neunten Jahrhundert n. Chr. slawische Sitte und Sprache an. Hier sind
sie gegenwärtig kaum noch von ihren nächsten nördlichen Nachbarn, den Serben,
zu unterscheiden. Die neubnlgarische Sprache ist nach Schafarik am nächsten
mit der großrussischen verwandt. Sie hat ihren alten Rhinismus, d. h. das
Aussprechen bestimmter In- und Auslande durch Nasentöue, welches sonst nur
den Polen und den Rumänen und Magyaren (bei slawischen Lehnwörtern)
geblieben ist, in manchen Ausdrücken und Rainen behalten und unterscheidet
sich außerdem von den Schwestersprachen hauptsächlich dadurch, daß sie wie die
skandinavischen Sprachen und das Albanesische den Artikel dem Substantiv nicht
vorangehen, sondern folgen läßt.

Gegenwärtig ist das Gebiet, wo dieser Volksstamm am dichtesten sitzt,
nahezu umschrieben durch die Donau, den Tinot und eine Linie, welche durch
die Städte Alexincch, Barja, Tirgowitza, Prisrend, Ochrida, Kastoria, Niausta,
Salonik, Adrianopel, Siseboli und -- nach starker Einbiegung gegen Westen
hin -- auf das fünf Meilen donauabwärts von Rustschuk gelegene Baba zuläuft.
Innerhalb dieser Grenzen, die, wie man sieht, weit über das eigentliche Bul¬
garien Hinausgehen -- u. A. ist fast ganz Macedonien von Bulgaren bewohnt
-- liegen zwar viele, zum Theil ziemlich große türkische Ansiedelungen, auch
sind seit dem Krimkriege in demselben mehrere Tscherkessen - Colonien angelegt
worden; aber außerhalb unsrer Linie giebt es dafür wieder eine bedeutende
Anzahl von Vorposten oder Trümmern der bulgarischen Race unter Albanesen,


Die Bulgaren.

Unter den Völkerschaften, welche bei den bevorstehenden Ereignissen auf
der Balknnhalbinsel zunächst in Betracht kommen, nehmen die Bulgaren durch
ihre Zahl die erste Stelle ein. Gerade von ihnen aber hat man unsrer Er¬
fahrung nach in Deutschland nur dürftige Kenntniß und eine wenig klare Vor¬
stellung, und so scheint ein Bericht über sie an der Zeit. Die Bulgaren, alt¬
slawisch Blugaru, serbisch Bngar, griechisch Bulgaroi, albanesisch Skjau und
rumänisch Skjeji genannt, sind ihrem Ursprünge nach keine Slawen. Sie sind
vielmehr ein Volk finnischen Stammes, welches einst eine Sprache redete, die
mit der madjarischen verwandt war, zugleich aber türkische Elemente in sich
aufgenommen hatte, so daß die Bulgaren, als sie zuerst in die Geschichte ein¬
traten, wahrscheinlich ein Mischvolk, zusammengesetzt ans finnischen und türkischen
Bestandtheilen waren. Gegen das Ende der Völkerwanderung brachen sie von
der Wolga, wo sie neben den Chazaren gewohnt, nach Bithynien und Moslem
auf und drangen selbst bis nach Italien vor. Sie mischten sich auf diesem Zuge
mit deu slawischen Anten und nahmen in Bithynien schon im achten, in Moslem
im neunten Jahrhundert n. Chr. slawische Sitte und Sprache an. Hier sind
sie gegenwärtig kaum noch von ihren nächsten nördlichen Nachbarn, den Serben,
zu unterscheiden. Die neubnlgarische Sprache ist nach Schafarik am nächsten
mit der großrussischen verwandt. Sie hat ihren alten Rhinismus, d. h. das
Aussprechen bestimmter In- und Auslande durch Nasentöue, welches sonst nur
den Polen und den Rumänen und Magyaren (bei slawischen Lehnwörtern)
geblieben ist, in manchen Ausdrücken und Rainen behalten und unterscheidet
sich außerdem von den Schwestersprachen hauptsächlich dadurch, daß sie wie die
skandinavischen Sprachen und das Albanesische den Artikel dem Substantiv nicht
vorangehen, sondern folgen läßt.

Gegenwärtig ist das Gebiet, wo dieser Volksstamm am dichtesten sitzt,
nahezu umschrieben durch die Donau, den Tinot und eine Linie, welche durch
die Städte Alexincch, Barja, Tirgowitza, Prisrend, Ochrida, Kastoria, Niausta,
Salonik, Adrianopel, Siseboli und — nach starker Einbiegung gegen Westen
hin — auf das fünf Meilen donauabwärts von Rustschuk gelegene Baba zuläuft.
Innerhalb dieser Grenzen, die, wie man sieht, weit über das eigentliche Bul¬
garien Hinausgehen — u. A. ist fast ganz Macedonien von Bulgaren bewohnt
— liegen zwar viele, zum Theil ziemlich große türkische Ansiedelungen, auch
sind seit dem Krimkriege in demselben mehrere Tscherkessen - Colonien angelegt
worden; aber außerhalb unsrer Linie giebt es dafür wieder eine bedeutende
Anzahl von Vorposten oder Trümmern der bulgarischen Race unter Albanesen,


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[0196] Die Bulgaren. Unter den Völkerschaften, welche bei den bevorstehenden Ereignissen auf der Balknnhalbinsel zunächst in Betracht kommen, nehmen die Bulgaren durch ihre Zahl die erste Stelle ein. Gerade von ihnen aber hat man unsrer Er¬ fahrung nach in Deutschland nur dürftige Kenntniß und eine wenig klare Vor¬ stellung, und so scheint ein Bericht über sie an der Zeit. Die Bulgaren, alt¬ slawisch Blugaru, serbisch Bngar, griechisch Bulgaroi, albanesisch Skjau und rumänisch Skjeji genannt, sind ihrem Ursprünge nach keine Slawen. Sie sind vielmehr ein Volk finnischen Stammes, welches einst eine Sprache redete, die mit der madjarischen verwandt war, zugleich aber türkische Elemente in sich aufgenommen hatte, so daß die Bulgaren, als sie zuerst in die Geschichte ein¬ traten, wahrscheinlich ein Mischvolk, zusammengesetzt ans finnischen und türkischen Bestandtheilen waren. Gegen das Ende der Völkerwanderung brachen sie von der Wolga, wo sie neben den Chazaren gewohnt, nach Bithynien und Moslem auf und drangen selbst bis nach Italien vor. Sie mischten sich auf diesem Zuge mit deu slawischen Anten und nahmen in Bithynien schon im achten, in Moslem im neunten Jahrhundert n. Chr. slawische Sitte und Sprache an. Hier sind sie gegenwärtig kaum noch von ihren nächsten nördlichen Nachbarn, den Serben, zu unterscheiden. Die neubnlgarische Sprache ist nach Schafarik am nächsten mit der großrussischen verwandt. Sie hat ihren alten Rhinismus, d. h. das Aussprechen bestimmter In- und Auslande durch Nasentöue, welches sonst nur den Polen und den Rumänen und Magyaren (bei slawischen Lehnwörtern) geblieben ist, in manchen Ausdrücken und Rainen behalten und unterscheidet sich außerdem von den Schwestersprachen hauptsächlich dadurch, daß sie wie die skandinavischen Sprachen und das Albanesische den Artikel dem Substantiv nicht vorangehen, sondern folgen läßt. Gegenwärtig ist das Gebiet, wo dieser Volksstamm am dichtesten sitzt, nahezu umschrieben durch die Donau, den Tinot und eine Linie, welche durch die Städte Alexincch, Barja, Tirgowitza, Prisrend, Ochrida, Kastoria, Niausta, Salonik, Adrianopel, Siseboli und — nach starker Einbiegung gegen Westen hin — auf das fünf Meilen donauabwärts von Rustschuk gelegene Baba zuläuft. Innerhalb dieser Grenzen, die, wie man sieht, weit über das eigentliche Bul¬ garien Hinausgehen — u. A. ist fast ganz Macedonien von Bulgaren bewohnt — liegen zwar viele, zum Theil ziemlich große türkische Ansiedelungen, auch sind seit dem Krimkriege in demselben mehrere Tscherkessen - Colonien angelegt worden; aber außerhalb unsrer Linie giebt es dafür wieder eine bedeutende Anzahl von Vorposten oder Trümmern der bulgarischen Race unter Albanesen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/196>, abgerufen am 23.07.2024.