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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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tismus mit Materialismus trösteten sich damit und pochten darauf, daß Kant
in der Kritik der reinen Vernunft bewiesen habe, mau könne von Gott, Frei¬
heit, Unsterblichkeit nichts wissen. Indeß so wenig kann sich der Deutsche dem
Idealismus entziehen, daß es vielleicht keine in der Liebe zur Wahrheit ge¬
schriebene materialistische Schrift giebt, welche nicht, im Widerspruch mit ihrem
System, Kant's kategorischen Imperativ und das Princip sittlicher Freiheit fest¬
gehalten hat.

Scharfsinnig nicht allein, sondern mich geistvoll macht Harms auf den
Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft in Kant's Philosophie
aufmerksam. Und ich möchte seine Betrachtung in meinen Worten kurz so zu¬
sammenfassen. Im Verhältniß zwischen praktischer und theoretischer Vernunft
findet sich das Verhältniß wieder, das sich seit Zerfall der Scholastik zwischen
Glauben und Wissen bildete. Die praktische Vernunft, als Glaube, dient zur
Ergänzung der theoretischen Vernunft, des Wissens. Kant, der Vater der
Vernunftwissenschaft, degradirt daher die Vernunft doch eigentlich ganz wie die
Kirche; wie diese sagt er, die Vernunft erstrecke sich nur auf die Sinnlichkeit,
das Unsinnliche sei Forderung des Glaubens. Der Unterschied ist freilich, daß
Kant nicht mit der Kirche sagt: ich glaube, weil es absurd ist, sondern: ich
glaube, weil es Pflicht ist, und weil es die praktische Vernunft fordert.

Dieser Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bei
Kant, sagt Harms, forderte zur Lösung auf. Und indem Harms diesen Fort¬
gang in Fichte's Wissenschaftslehre, mit Aufstellung des Problems der wahren
Methode des Denkens an Stelle von Kant's Problem des Erkennens, gemacht
sieht, so ist klar, daß er nicht eine Rückkehr bis Kant, sondern zu Fichte will.
Verdienstvoll ist dabei seine auch schon in seinen früheren Schriften, wie in
seiner Rede bei Fichte's hundertjähriger Geburtstagsfeier geschehene Durch¬
führung, daß Fichte's System nicht subjectiver, sondern ethischer Idealismus
sei; daß Fichte nicht zwei Systeme, sondern nnr eins gelehrt habe. Ein Mangel
bei Fichte ist aber, daß er bei seiner einseitigen Werthschätzung des ethischen
Princips die Natur nur teleologisch als Mittel zur Verwirklichung des Sitt¬
lichen auffaßte. Diesen Mangel wollte Schelling ergänzen, als er in seiner
Naturphilosophie die Naturseite der Welt in Entwicklung darstellen wollte; aber
dabei geschah es, daß die Ethik ihr Recht verlor und die Weltentwicklung ein
Naturproceß, ein physischer Proceß wurde. Bei Hegel ward das Geschehen in
der Welt ein logischer Proceß.

So verlief der Anstoß der Wissenschaftslehre, obgleich Fortschritt über
Kant, in drei einseitigen Richtungen, einer rein ethischen, einer physischen und
einer logischen; eine weitere Einseitigkeit aber war die, daß sie zugleich absolute
Philosophie sein wollte, nicht nur eine Wissenschaft der Begriffe, sondern auch


Grenzboten I. 1877. 22

tismus mit Materialismus trösteten sich damit und pochten darauf, daß Kant
in der Kritik der reinen Vernunft bewiesen habe, mau könne von Gott, Frei¬
heit, Unsterblichkeit nichts wissen. Indeß so wenig kann sich der Deutsche dem
Idealismus entziehen, daß es vielleicht keine in der Liebe zur Wahrheit ge¬
schriebene materialistische Schrift giebt, welche nicht, im Widerspruch mit ihrem
System, Kant's kategorischen Imperativ und das Princip sittlicher Freiheit fest¬
gehalten hat.

Scharfsinnig nicht allein, sondern mich geistvoll macht Harms auf den
Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft in Kant's Philosophie
aufmerksam. Und ich möchte seine Betrachtung in meinen Worten kurz so zu¬
sammenfassen. Im Verhältniß zwischen praktischer und theoretischer Vernunft
findet sich das Verhältniß wieder, das sich seit Zerfall der Scholastik zwischen
Glauben und Wissen bildete. Die praktische Vernunft, als Glaube, dient zur
Ergänzung der theoretischen Vernunft, des Wissens. Kant, der Vater der
Vernunftwissenschaft, degradirt daher die Vernunft doch eigentlich ganz wie die
Kirche; wie diese sagt er, die Vernunft erstrecke sich nur auf die Sinnlichkeit,
das Unsinnliche sei Forderung des Glaubens. Der Unterschied ist freilich, daß
Kant nicht mit der Kirche sagt: ich glaube, weil es absurd ist, sondern: ich
glaube, weil es Pflicht ist, und weil es die praktische Vernunft fordert.

Dieser Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bei
Kant, sagt Harms, forderte zur Lösung auf. Und indem Harms diesen Fort¬
gang in Fichte's Wissenschaftslehre, mit Aufstellung des Problems der wahren
Methode des Denkens an Stelle von Kant's Problem des Erkennens, gemacht
sieht, so ist klar, daß er nicht eine Rückkehr bis Kant, sondern zu Fichte will.
Verdienstvoll ist dabei seine auch schon in seinen früheren Schriften, wie in
seiner Rede bei Fichte's hundertjähriger Geburtstagsfeier geschehene Durch¬
führung, daß Fichte's System nicht subjectiver, sondern ethischer Idealismus
sei; daß Fichte nicht zwei Systeme, sondern nnr eins gelehrt habe. Ein Mangel
bei Fichte ist aber, daß er bei seiner einseitigen Werthschätzung des ethischen
Princips die Natur nur teleologisch als Mittel zur Verwirklichung des Sitt¬
lichen auffaßte. Diesen Mangel wollte Schelling ergänzen, als er in seiner
Naturphilosophie die Naturseite der Welt in Entwicklung darstellen wollte; aber
dabei geschah es, daß die Ethik ihr Recht verlor und die Weltentwicklung ein
Naturproceß, ein physischer Proceß wurde. Bei Hegel ward das Geschehen in
der Welt ein logischer Proceß.

So verlief der Anstoß der Wissenschaftslehre, obgleich Fortschritt über
Kant, in drei einseitigen Richtungen, einer rein ethischen, einer physischen und
einer logischen; eine weitere Einseitigkeit aber war die, daß sie zugleich absolute
Philosophie sein wollte, nicht nur eine Wissenschaft der Begriffe, sondern auch


Grenzboten I. 1877. 22
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[0177] tismus mit Materialismus trösteten sich damit und pochten darauf, daß Kant in der Kritik der reinen Vernunft bewiesen habe, mau könne von Gott, Frei¬ heit, Unsterblichkeit nichts wissen. Indeß so wenig kann sich der Deutsche dem Idealismus entziehen, daß es vielleicht keine in der Liebe zur Wahrheit ge¬ schriebene materialistische Schrift giebt, welche nicht, im Widerspruch mit ihrem System, Kant's kategorischen Imperativ und das Princip sittlicher Freiheit fest¬ gehalten hat. Scharfsinnig nicht allein, sondern mich geistvoll macht Harms auf den Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft in Kant's Philosophie aufmerksam. Und ich möchte seine Betrachtung in meinen Worten kurz so zu¬ sammenfassen. Im Verhältniß zwischen praktischer und theoretischer Vernunft findet sich das Verhältniß wieder, das sich seit Zerfall der Scholastik zwischen Glauben und Wissen bildete. Die praktische Vernunft, als Glaube, dient zur Ergänzung der theoretischen Vernunft, des Wissens. Kant, der Vater der Vernunftwissenschaft, degradirt daher die Vernunft doch eigentlich ganz wie die Kirche; wie diese sagt er, die Vernunft erstrecke sich nur auf die Sinnlichkeit, das Unsinnliche sei Forderung des Glaubens. Der Unterschied ist freilich, daß Kant nicht mit der Kirche sagt: ich glaube, weil es absurd ist, sondern: ich glaube, weil es Pflicht ist, und weil es die praktische Vernunft fordert. Dieser Widerspruch zwischen theoretischer und praktischer Vernunft bei Kant, sagt Harms, forderte zur Lösung auf. Und indem Harms diesen Fort¬ gang in Fichte's Wissenschaftslehre, mit Aufstellung des Problems der wahren Methode des Denkens an Stelle von Kant's Problem des Erkennens, gemacht sieht, so ist klar, daß er nicht eine Rückkehr bis Kant, sondern zu Fichte will. Verdienstvoll ist dabei seine auch schon in seinen früheren Schriften, wie in seiner Rede bei Fichte's hundertjähriger Geburtstagsfeier geschehene Durch¬ führung, daß Fichte's System nicht subjectiver, sondern ethischer Idealismus sei; daß Fichte nicht zwei Systeme, sondern nnr eins gelehrt habe. Ein Mangel bei Fichte ist aber, daß er bei seiner einseitigen Werthschätzung des ethischen Princips die Natur nur teleologisch als Mittel zur Verwirklichung des Sitt¬ lichen auffaßte. Diesen Mangel wollte Schelling ergänzen, als er in seiner Naturphilosophie die Naturseite der Welt in Entwicklung darstellen wollte; aber dabei geschah es, daß die Ethik ihr Recht verlor und die Weltentwicklung ein Naturproceß, ein physischer Proceß wurde. Bei Hegel ward das Geschehen in der Welt ein logischer Proceß. So verlief der Anstoß der Wissenschaftslehre, obgleich Fortschritt über Kant, in drei einseitigen Richtungen, einer rein ethischen, einer physischen und einer logischen; eine weitere Einseitigkeit aber war die, daß sie zugleich absolute Philosophie sein wollte, nicht nur eine Wissenschaft der Begriffe, sondern auch Grenzboten I. 1877. 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/177>, abgerufen am 23.07.2024.