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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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den ersteren soll hiernach Erkenntniß liegen. Kant richtet daher seine Unter¬
suchung nnr auf die synthetischen, nicht auf die analytischen Urtheile, auf die
apriorische, nicht anf die empirische Erkenntniß. Und doch muß eine vollstän¬
dige Wissenschaft von der Erkenntniß auch die Möglichkeit der empirischen Er¬
kenntniß und der analytischen Urtheile untersuchen. Kant schließt dies aus.
Und indem er die Losung seines Problems beginnt mit der Untersuchung über
die Möglichkeit synthetischer Urtheile s. priori in der Mathematik, so tritt ein
Mangel ein, indem er unterläßt, die allgemeinen Bedingungen und Voraus¬
setzungen seiner Lösung für sich abzuhandeln. Er setzt als bekannt und gewiß
voraus, was nicht als bekannt gelten kann. Unrichtig ist es indeß, zu meinen,
daß das Wort ". priori eine temporale Bedeutung habe. Kant will damit nur
sagen, daß zur Erkenntniß mehr gehört als ein Gegenstand oder Stoff. Ein
Subject gehört dazu, das seine Erkenntniß nur dadurch besitzt, daß es sie selbst
durch seine den gegebenen Stoff der Sinne formende und ordnende Thätigkeit
hervorbringt. Alle wahre Erkenntniß ist erworben, ist Production eines Sub¬
jects (118 -- 153).

Durch diese Begründung gewann Kant den Ruhm, den schon Leibniz er¬
werben wollte. Ihm gelang der Nachweis des metaphysischen Charakters der
Philosophie gegenüber dem Sensualismus. Er in Wahrheit begründete den
Dynmnismus philosophischer Weltanschauung; denn nicht nur ließ er die sinn¬
liche Materie als Dynamis, als anziehende Kraft begreifen, sondern auch den
Geist ließ er als Dynamis, als eine Kraft synthetischer Urtheile und sittlicher
Freiheit erkennen. Im Sensualismus war die Seele Passiv, kraftlos den sinn¬
lichen Eindrücken gegenüber, im Rationalismus war sie kraftlos, da sie mit ein-
gebornen Jdeeninhalt lebte. Der Kant'sche Kriticismus machte aber die Seele
wahrhaft zu einer Kraft, da der Inhalt der Erkenntniß ihr eignes Product ist.
Von jetzt an ward die deutsche Philosophie die Philosophie der Freiheit. Kant
zuerst stellte die Freiheit als Erklärungsgrund von allem sittlichen Handeln
auf (241). Wir können daher Hnrms nur Recht geben, wenn er in feiner Dar¬
stellung den Gedanken durchführt, daß in den beiden Kritiken der praktischen
Vernunft und der Urtheilskraft die wahre Ansicht Kant's enthalten sei. Und
jedenfalls waren es die Positionen dieser beiden Kritiken, es waren die Forde¬
rungen praktischer Vernunft, anf welche der deutsche Idealismus weiterbaute;
es war der aus dem Princip der Freiheit stammende kategorische Imperativ,
der eine Macht in Literatur und Geschichte ward und die weitstrahlende Ehre
Kant's begründete. Die Kritik der reinen Vernunft enthält dagegen nach Harms
nur die Negationen, die aber in der Kant'schen Philosophie machtlos sind gegen¬
über dem Primat der praktischen Forderungen. Ihre Bedeutung, dürfen wir
sagen, gewannen sie aber außerhalb des Kant'schen Systems. Denn Jndifferen-


den ersteren soll hiernach Erkenntniß liegen. Kant richtet daher seine Unter¬
suchung nnr auf die synthetischen, nicht auf die analytischen Urtheile, auf die
apriorische, nicht anf die empirische Erkenntniß. Und doch muß eine vollstän¬
dige Wissenschaft von der Erkenntniß auch die Möglichkeit der empirischen Er¬
kenntniß und der analytischen Urtheile untersuchen. Kant schließt dies aus.
Und indem er die Losung seines Problems beginnt mit der Untersuchung über
die Möglichkeit synthetischer Urtheile s. priori in der Mathematik, so tritt ein
Mangel ein, indem er unterläßt, die allgemeinen Bedingungen und Voraus¬
setzungen seiner Lösung für sich abzuhandeln. Er setzt als bekannt und gewiß
voraus, was nicht als bekannt gelten kann. Unrichtig ist es indeß, zu meinen,
daß das Wort ». priori eine temporale Bedeutung habe. Kant will damit nur
sagen, daß zur Erkenntniß mehr gehört als ein Gegenstand oder Stoff. Ein
Subject gehört dazu, das seine Erkenntniß nur dadurch besitzt, daß es sie selbst
durch seine den gegebenen Stoff der Sinne formende und ordnende Thätigkeit
hervorbringt. Alle wahre Erkenntniß ist erworben, ist Production eines Sub¬
jects (118 — 153).

Durch diese Begründung gewann Kant den Ruhm, den schon Leibniz er¬
werben wollte. Ihm gelang der Nachweis des metaphysischen Charakters der
Philosophie gegenüber dem Sensualismus. Er in Wahrheit begründete den
Dynmnismus philosophischer Weltanschauung; denn nicht nur ließ er die sinn¬
liche Materie als Dynamis, als anziehende Kraft begreifen, sondern auch den
Geist ließ er als Dynamis, als eine Kraft synthetischer Urtheile und sittlicher
Freiheit erkennen. Im Sensualismus war die Seele Passiv, kraftlos den sinn¬
lichen Eindrücken gegenüber, im Rationalismus war sie kraftlos, da sie mit ein-
gebornen Jdeeninhalt lebte. Der Kant'sche Kriticismus machte aber die Seele
wahrhaft zu einer Kraft, da der Inhalt der Erkenntniß ihr eignes Product ist.
Von jetzt an ward die deutsche Philosophie die Philosophie der Freiheit. Kant
zuerst stellte die Freiheit als Erklärungsgrund von allem sittlichen Handeln
auf (241). Wir können daher Hnrms nur Recht geben, wenn er in feiner Dar¬
stellung den Gedanken durchführt, daß in den beiden Kritiken der praktischen
Vernunft und der Urtheilskraft die wahre Ansicht Kant's enthalten sei. Und
jedenfalls waren es die Positionen dieser beiden Kritiken, es waren die Forde¬
rungen praktischer Vernunft, anf welche der deutsche Idealismus weiterbaute;
es war der aus dem Princip der Freiheit stammende kategorische Imperativ,
der eine Macht in Literatur und Geschichte ward und die weitstrahlende Ehre
Kant's begründete. Die Kritik der reinen Vernunft enthält dagegen nach Harms
nur die Negationen, die aber in der Kant'schen Philosophie machtlos sind gegen¬
über dem Primat der praktischen Forderungen. Ihre Bedeutung, dürfen wir
sagen, gewannen sie aber außerhalb des Kant'schen Systems. Denn Jndifferen-


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[0176] den ersteren soll hiernach Erkenntniß liegen. Kant richtet daher seine Unter¬ suchung nnr auf die synthetischen, nicht auf die analytischen Urtheile, auf die apriorische, nicht anf die empirische Erkenntniß. Und doch muß eine vollstän¬ dige Wissenschaft von der Erkenntniß auch die Möglichkeit der empirischen Er¬ kenntniß und der analytischen Urtheile untersuchen. Kant schließt dies aus. Und indem er die Losung seines Problems beginnt mit der Untersuchung über die Möglichkeit synthetischer Urtheile s. priori in der Mathematik, so tritt ein Mangel ein, indem er unterläßt, die allgemeinen Bedingungen und Voraus¬ setzungen seiner Lösung für sich abzuhandeln. Er setzt als bekannt und gewiß voraus, was nicht als bekannt gelten kann. Unrichtig ist es indeß, zu meinen, daß das Wort ». priori eine temporale Bedeutung habe. Kant will damit nur sagen, daß zur Erkenntniß mehr gehört als ein Gegenstand oder Stoff. Ein Subject gehört dazu, das seine Erkenntniß nur dadurch besitzt, daß es sie selbst durch seine den gegebenen Stoff der Sinne formende und ordnende Thätigkeit hervorbringt. Alle wahre Erkenntniß ist erworben, ist Production eines Sub¬ jects (118 — 153). Durch diese Begründung gewann Kant den Ruhm, den schon Leibniz er¬ werben wollte. Ihm gelang der Nachweis des metaphysischen Charakters der Philosophie gegenüber dem Sensualismus. Er in Wahrheit begründete den Dynmnismus philosophischer Weltanschauung; denn nicht nur ließ er die sinn¬ liche Materie als Dynamis, als anziehende Kraft begreifen, sondern auch den Geist ließ er als Dynamis, als eine Kraft synthetischer Urtheile und sittlicher Freiheit erkennen. Im Sensualismus war die Seele Passiv, kraftlos den sinn¬ lichen Eindrücken gegenüber, im Rationalismus war sie kraftlos, da sie mit ein- gebornen Jdeeninhalt lebte. Der Kant'sche Kriticismus machte aber die Seele wahrhaft zu einer Kraft, da der Inhalt der Erkenntniß ihr eignes Product ist. Von jetzt an ward die deutsche Philosophie die Philosophie der Freiheit. Kant zuerst stellte die Freiheit als Erklärungsgrund von allem sittlichen Handeln auf (241). Wir können daher Hnrms nur Recht geben, wenn er in feiner Dar¬ stellung den Gedanken durchführt, daß in den beiden Kritiken der praktischen Vernunft und der Urtheilskraft die wahre Ansicht Kant's enthalten sei. Und jedenfalls waren es die Positionen dieser beiden Kritiken, es waren die Forde¬ rungen praktischer Vernunft, anf welche der deutsche Idealismus weiterbaute; es war der aus dem Princip der Freiheit stammende kategorische Imperativ, der eine Macht in Literatur und Geschichte ward und die weitstrahlende Ehre Kant's begründete. Die Kritik der reinen Vernunft enthält dagegen nach Harms nur die Negationen, die aber in der Kant'schen Philosophie machtlos sind gegen¬ über dem Primat der praktischen Forderungen. Ihre Bedeutung, dürfen wir sagen, gewannen sie aber außerhalb des Kant'schen Systems. Denn Jndifferen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/176>, abgerufen am 23.07.2024.