Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.überzeugt von der Möglichkeit einer Philosophie als der Wissenschaft der all¬ Wir können das Gesagte als die Grundstimmung betrachten, aus welcher Der zweite Theil ist die Philosophie der neueuropäischen oder christlichen überzeugt von der Möglichkeit einer Philosophie als der Wissenschaft der all¬ Wir können das Gesagte als die Grundstimmung betrachten, aus welcher Der zweite Theil ist die Philosophie der neueuropäischen oder christlichen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/137343"/> <p xml:id="ID_590" prev="#ID_589"> überzeugt von der Möglichkeit einer Philosophie als der Wissenschaft der all¬<lb/> gemeinen Wahrheiten, als der Wissenschaft, welche ans den Lehren der ver¬<lb/> einzelten Fachwissenschaften ein zusammenhängendes, systematisches Wissen von<lb/> der Welt gewinnen will. Eines nur wird dabei vorausgesetzt, daß unser Geist<lb/> ein Vermögen allgemeiner Wahrheiten sei. Diese Gewißheit aber brachte grade<lb/> Kant, und deshalb gestehen wir, daß wir mehr der Ansicht von Harms als<lb/> der von Zeller Recht geben; denn Kant's Entdeckung wäre ein todtgebornes<lb/> Kind, wenn sie in einem System zum Abschluß kommen könnte. Aber der<lb/> Gedanke, daß der Geist eine Kraft der Wahrheit sei, kann er je zu einem Abschluß<lb/> führen? Verleihe nicht er grade stets neues Leben dem Trieb und Drang nach<lb/> Wahrheit? Deshalb, wenn dieser Gedanke Anlaß wurde zu einer Gedanken¬<lb/> entwickelung, die sich allmählich erschöpft hat, so erschöpfte sich damit nur eine<lb/> Einseitigkeit, die von der Entdeckung angeregt wurde, nicht aber das Leben<lb/> dieser Entdeckung selbst. Vielfach hört man daher auch den Ruf: Rückkehr zu<lb/> Kant! Aber sollte die ihm nachfolgende Philosophie völlig werthlos sein?<lb/> Da heißt denn „die Frage der deutschen Philosophie nicht: Kant oder nicht<lb/> Kant, soudern Fichte. Wie man Fichte's Lehren auffaßt, so denkt und urtheilt<lb/> man über die Philosophie seit Kant." (S. 57.)</p><lb/> <p xml:id="ID_591"> Wir können das Gesagte als die Grundstimmung betrachten, aus welcher<lb/> Harms seine Geschichte schrieb. Um auf die bedeutende Arbeit, welche an<lb/> Klarheit gewann, da sie nur die Hauptsysteme giebt, hinzuweisen, wollen wir<lb/> kurz vom Inhalt referiren. Harms will die Philosophie seit Kant als ein<lb/> Ganzes darstellen, was jedoch nicht ohne Bezug auf die Entwickelung der<lb/> Philosophie geschehen kann. (S. 1.) Zwei Hauptseite sind zu unterscheiden.<lb/> Erstens die alte oder die griechische Philosophie; sie steht in Opposition zur<lb/> Mythologie, erhob sich aber nie daraus; ihre Ethik beruht auf der Ver¬<lb/> wechselung des Schönen und Guten, ihre Physik ist Evolutions- und Meta¬<lb/> morphosenlehre; sie ist nicht universell, sondern nur national, weshalb es un¬<lb/> geschichtlich und unphilosophisch ist, sie als wahre Philosophie restauriren zu<lb/> wollen; sie ist überdies nicht bloße Speculation, sondern ein Streben nach<lb/> vollkommenem Wissen, woraus das wahre Leben und Handeln hervorgehen<lb/> soll. (S. 23—26.)</p><lb/> <p xml:id="ID_592" next="#ID_593"> Der zweite Theil ist die Philosophie der neueuropäischen oder christlichen<lb/> Völker. Die des Mittelalters gehört hierher; denn obgleich von der griechischen<lb/> Philosophie vielfach beeinflußt, ist sie doch keine Fortsetzung derselben, da sie<lb/> neue Probleme aufstellt, die aus dem christlichen Glauben stammen. Das<lb/> Christenthum stellte sich vou Anfang an anders zur Wissenschaft wie die alten<lb/> Religionen. Die Mythologie excludirt die Wissenschaft, das Christenthum zog<lb/> sie von Anfang an heran, sich zu vertheidigen und sich zum System zu ge-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0170]
überzeugt von der Möglichkeit einer Philosophie als der Wissenschaft der all¬
gemeinen Wahrheiten, als der Wissenschaft, welche ans den Lehren der ver¬
einzelten Fachwissenschaften ein zusammenhängendes, systematisches Wissen von
der Welt gewinnen will. Eines nur wird dabei vorausgesetzt, daß unser Geist
ein Vermögen allgemeiner Wahrheiten sei. Diese Gewißheit aber brachte grade
Kant, und deshalb gestehen wir, daß wir mehr der Ansicht von Harms als
der von Zeller Recht geben; denn Kant's Entdeckung wäre ein todtgebornes
Kind, wenn sie in einem System zum Abschluß kommen könnte. Aber der
Gedanke, daß der Geist eine Kraft der Wahrheit sei, kann er je zu einem Abschluß
führen? Verleihe nicht er grade stets neues Leben dem Trieb und Drang nach
Wahrheit? Deshalb, wenn dieser Gedanke Anlaß wurde zu einer Gedanken¬
entwickelung, die sich allmählich erschöpft hat, so erschöpfte sich damit nur eine
Einseitigkeit, die von der Entdeckung angeregt wurde, nicht aber das Leben
dieser Entdeckung selbst. Vielfach hört man daher auch den Ruf: Rückkehr zu
Kant! Aber sollte die ihm nachfolgende Philosophie völlig werthlos sein?
Da heißt denn „die Frage der deutschen Philosophie nicht: Kant oder nicht
Kant, soudern Fichte. Wie man Fichte's Lehren auffaßt, so denkt und urtheilt
man über die Philosophie seit Kant." (S. 57.)
Wir können das Gesagte als die Grundstimmung betrachten, aus welcher
Harms seine Geschichte schrieb. Um auf die bedeutende Arbeit, welche an
Klarheit gewann, da sie nur die Hauptsysteme giebt, hinzuweisen, wollen wir
kurz vom Inhalt referiren. Harms will die Philosophie seit Kant als ein
Ganzes darstellen, was jedoch nicht ohne Bezug auf die Entwickelung der
Philosophie geschehen kann. (S. 1.) Zwei Hauptseite sind zu unterscheiden.
Erstens die alte oder die griechische Philosophie; sie steht in Opposition zur
Mythologie, erhob sich aber nie daraus; ihre Ethik beruht auf der Ver¬
wechselung des Schönen und Guten, ihre Physik ist Evolutions- und Meta¬
morphosenlehre; sie ist nicht universell, sondern nur national, weshalb es un¬
geschichtlich und unphilosophisch ist, sie als wahre Philosophie restauriren zu
wollen; sie ist überdies nicht bloße Speculation, sondern ein Streben nach
vollkommenem Wissen, woraus das wahre Leben und Handeln hervorgehen
soll. (S. 23—26.)
Der zweite Theil ist die Philosophie der neueuropäischen oder christlichen
Völker. Die des Mittelalters gehört hierher; denn obgleich von der griechischen
Philosophie vielfach beeinflußt, ist sie doch keine Fortsetzung derselben, da sie
neue Probleme aufstellt, die aus dem christlichen Glauben stammen. Das
Christenthum stellte sich vou Anfang an anders zur Wissenschaft wie die alten
Religionen. Die Mythologie excludirt die Wissenschaft, das Christenthum zog
sie von Anfang an heran, sich zu vertheidigen und sich zum System zu ge-
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