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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Zur Geschichte der deutschen Philosophie.*)
B Dr. L, Weis. on

Innerhalb drei Jahren sind zwei Geschichten der deutschen Philosophie
erschienen, die eine von E. Zeller, München 1873, die andere von Fr. Harms,
Berlin 1876. Die erste geht von der Ansicht aus, daß in Hegel der Idealis¬
mus Kant's seinen Abschluß gefunden habe. Die andre sagt, daß wir in der
mit Kant begonnenen Philosophie noch mitten inne stehen, daß Hegel nur
eine einseitige Richtung ausgebildet habe. Und das Erscheinen von Harms'
Geschichte zeigt jedenfalls, daß die Behauptung von Zeller noch eine offene
Frage ist. Nun sind aber zugleich beide Schriften von Männern geschrieben,
welche die Wissenschaft nur ihrer selbst und der Wahrheit wegen lieben; beide
Männer wollen mit seltener Treue das objectiv Gegebene darstellen und ver¬
einzelte subjective Anschauung vermeiden.

Zeigt nun grade diese Thatsache nicht, daß der Mensch einer individuell
subjectiven Anschauung nicht entrinnen kann? Läßt sie nicht wieder die Frage
auswerfen, ob bei diesem Individualismus ein allgemeines Wissen möglich sei?
Trefflich zeigt Harms (S. 86 ff.), wie diese Möglichkeit von Fr. H. Jakobi
geleugnet worden sei, und wie unsere Zeit mit ihrer vielfachen Verachtung der
Philosophie sich ganz die Anschauung des soviel mit Spott und Hohn ver¬
folgten sogenannten Glanbensphilvsophen angeeignet habe.

Indeß grade die Naturwissenschaften zeigen die Möglichkeit der Erkenntniß
allgemeiner Wahrheiten durch die Mittel des Experiments und der Erfahrung,
und auch im geistigen Leben giebt es Dinge genug, die an ihren Früchten er¬
kennen lassen, ob sie dem Ewigen entstammen oder nicht. Wir sind daher



") Die Philosophie seit Kant. Von Friedrich Harms, ort. Prof. a- d. Univ. zu Berlin.
(Bibliothek für Wissenschaft und Literatur. 8. Band). Berlin. Theobald Grieben 1876.
XV. SOS. 12 M.
Grenzboten I. 1877. 21
Zur Geschichte der deutschen Philosophie.*)
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Innerhalb drei Jahren sind zwei Geschichten der deutschen Philosophie
erschienen, die eine von E. Zeller, München 1873, die andere von Fr. Harms,
Berlin 1876. Die erste geht von der Ansicht aus, daß in Hegel der Idealis¬
mus Kant's seinen Abschluß gefunden habe. Die andre sagt, daß wir in der
mit Kant begonnenen Philosophie noch mitten inne stehen, daß Hegel nur
eine einseitige Richtung ausgebildet habe. Und das Erscheinen von Harms'
Geschichte zeigt jedenfalls, daß die Behauptung von Zeller noch eine offene
Frage ist. Nun sind aber zugleich beide Schriften von Männern geschrieben,
welche die Wissenschaft nur ihrer selbst und der Wahrheit wegen lieben; beide
Männer wollen mit seltener Treue das objectiv Gegebene darstellen und ver¬
einzelte subjective Anschauung vermeiden.

Zeigt nun grade diese Thatsache nicht, daß der Mensch einer individuell
subjectiven Anschauung nicht entrinnen kann? Läßt sie nicht wieder die Frage
auswerfen, ob bei diesem Individualismus ein allgemeines Wissen möglich sei?
Trefflich zeigt Harms (S. 86 ff.), wie diese Möglichkeit von Fr. H. Jakobi
geleugnet worden sei, und wie unsere Zeit mit ihrer vielfachen Verachtung der
Philosophie sich ganz die Anschauung des soviel mit Spott und Hohn ver¬
folgten sogenannten Glanbensphilvsophen angeeignet habe.

Indeß grade die Naturwissenschaften zeigen die Möglichkeit der Erkenntniß
allgemeiner Wahrheiten durch die Mittel des Experiments und der Erfahrung,
und auch im geistigen Leben giebt es Dinge genug, die an ihren Früchten er¬
kennen lassen, ob sie dem Ewigen entstammen oder nicht. Wir sind daher



") Die Philosophie seit Kant. Von Friedrich Harms, ort. Prof. a- d. Univ. zu Berlin.
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[0169] Zur Geschichte der deutschen Philosophie.*) B Dr. L, Weis. on Innerhalb drei Jahren sind zwei Geschichten der deutschen Philosophie erschienen, die eine von E. Zeller, München 1873, die andere von Fr. Harms, Berlin 1876. Die erste geht von der Ansicht aus, daß in Hegel der Idealis¬ mus Kant's seinen Abschluß gefunden habe. Die andre sagt, daß wir in der mit Kant begonnenen Philosophie noch mitten inne stehen, daß Hegel nur eine einseitige Richtung ausgebildet habe. Und das Erscheinen von Harms' Geschichte zeigt jedenfalls, daß die Behauptung von Zeller noch eine offene Frage ist. Nun sind aber zugleich beide Schriften von Männern geschrieben, welche die Wissenschaft nur ihrer selbst und der Wahrheit wegen lieben; beide Männer wollen mit seltener Treue das objectiv Gegebene darstellen und ver¬ einzelte subjective Anschauung vermeiden. Zeigt nun grade diese Thatsache nicht, daß der Mensch einer individuell subjectiven Anschauung nicht entrinnen kann? Läßt sie nicht wieder die Frage auswerfen, ob bei diesem Individualismus ein allgemeines Wissen möglich sei? Trefflich zeigt Harms (S. 86 ff.), wie diese Möglichkeit von Fr. H. Jakobi geleugnet worden sei, und wie unsere Zeit mit ihrer vielfachen Verachtung der Philosophie sich ganz die Anschauung des soviel mit Spott und Hohn ver¬ folgten sogenannten Glanbensphilvsophen angeeignet habe. Indeß grade die Naturwissenschaften zeigen die Möglichkeit der Erkenntniß allgemeiner Wahrheiten durch die Mittel des Experiments und der Erfahrung, und auch im geistigen Leben giebt es Dinge genug, die an ihren Früchten er¬ kennen lassen, ob sie dem Ewigen entstammen oder nicht. Wir sind daher ") Die Philosophie seit Kant. Von Friedrich Harms, ort. Prof. a- d. Univ. zu Berlin. (Bibliothek für Wissenschaft und Literatur. 8. Band). Berlin. Theobald Grieben 1876. XV. SOS. 12 M. Grenzboten I. 1877. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/169>, abgerufen am 23.07.2024.