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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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war demnach auf Schein und Aeußerlichkeit ohne Inhalt, ohne Realität abge¬
sehen. Als mit dem Tode des alten Kowalski in den ersten Vierziger-Jahren
des Jahrhunderts die Vorbildung auch der jüngeren Sohne abgeschlossen war,
fehlte ihnen sämmtlich jede innere Tüchtigkeit, auch die Fähigkeit, irgend einen
Beruf auszufüllen, weil sie nicht im Stande waren, mit Ausdauer zu arbeiten.
Und doch besaßen sie noch einen unschätzbaren Vorzug vor den meisten andern
jungen Polen: durch das andauernd eingeschränkte Leben ihrer Eltern, auch
wohl durch den vielfachen Verkehr mit Deutschen, blieben sie vor frühzeitiger
Genußsucht und Ausschweifungen bewahrt, auch blieb ihnen trotz des Cynismus
ihres Vaters Achtung vor dem weiblichen Geschlecht.

Verfolgen wir nun zunächst das Schicksal von Anastasia. Der Graf wollte
durchaus nicht kommen. Die zarte Röthe ihrer Wangen schlug schon in lebenskräf¬
tigen Purpur um, der sich zu ihrem Schrecken auch auf dem Kinn und auf dem
feinen Näschen ausbreitete, ihr zierliches Figürchen dehnte sich schon bedenklich
in allen Richtungen aus, und noch war überhaupt kaum ein ernstlicher Freier
dagewesen. Anbeter, schwärmerische Anbeter, bis zum Selbstmord schwärmerisch,
in Fülle -- aber alles Knaben, Jungen, Milchbärte -- alle sehr nett. Es wurde
auch keiner ganz zurückgestoßen, es konnte doch schlimmsten Falls mit irgend Einem
noch etwas werden. Für jeden hatte Staschka noch einen Blick, einen Hände¬
druck, der auf eine für ihn laut klingende Saite ihres Herzens schließen ließ.
Auch ich! O, ich war oft sehr selig! -- Indeß ein Sperling in der Hand ist
immer mehr werth, als eine Taube auf dem Dache. In der Zeit, wo die
Noth schon groß war, wurden die Besuche eines benachbarten Wirthschafts-
inspeetors häufiger und häufiger. In der Nachbarschaft verlautete, der stattliche
Hermannowski bewerbe sich um die blühende Anastasia Kowalska. Anastasia
bestritt das: "Ein solcher Inspector wird doch nicht so dreist sein, mich hei-
rathen zu wollen!" Inzwischen wurde Rasselwitz endlich verkauft; bei der
Höhe der Güterpreise war es möglich, daß die Familie von dem Kaufgelde
noch ein nicht unbeträchtliches Kapital für sich erübrigte. Auf jedes Mitglied
traf etwa der Betrag von 2000 Thalern. Es war nicht polnisch, daß die Ko¬
walskis das Geld nicht sofort in Saus und Braus durchbrachter, sondern
ihre eingeschränkte Lebensweise fortsetzten. Fran K. zog mit ihrer Lieblings¬
tochter nach der Stadt und miethete sich eine bescheidene Wohnung. Anastasia
war aber thatsächlich jetzt erst in den Stand gesetzt, einen Mann zu nehmen,
weil sie erst jetzt mit einer Ausstattung versehen werden konnte. In der Stadt
ging immer bestimmter das Gerücht um, Herr Hermauuowski habe von Anastasia
das Jawort. Anastasia besuchte öfter meine Schwester, ihre "Freundin", und
betheuerte mit himmelwärts gerichteten Blicken, das sei eine Lüge, sie würde
keinen bloßen Inspector heirathen, sie könne auch den Menschen nicht leiden. Aber


Grenzboten 1. 1877. 20

war demnach auf Schein und Aeußerlichkeit ohne Inhalt, ohne Realität abge¬
sehen. Als mit dem Tode des alten Kowalski in den ersten Vierziger-Jahren
des Jahrhunderts die Vorbildung auch der jüngeren Sohne abgeschlossen war,
fehlte ihnen sämmtlich jede innere Tüchtigkeit, auch die Fähigkeit, irgend einen
Beruf auszufüllen, weil sie nicht im Stande waren, mit Ausdauer zu arbeiten.
Und doch besaßen sie noch einen unschätzbaren Vorzug vor den meisten andern
jungen Polen: durch das andauernd eingeschränkte Leben ihrer Eltern, auch
wohl durch den vielfachen Verkehr mit Deutschen, blieben sie vor frühzeitiger
Genußsucht und Ausschweifungen bewahrt, auch blieb ihnen trotz des Cynismus
ihres Vaters Achtung vor dem weiblichen Geschlecht.

Verfolgen wir nun zunächst das Schicksal von Anastasia. Der Graf wollte
durchaus nicht kommen. Die zarte Röthe ihrer Wangen schlug schon in lebenskräf¬
tigen Purpur um, der sich zu ihrem Schrecken auch auf dem Kinn und auf dem
feinen Näschen ausbreitete, ihr zierliches Figürchen dehnte sich schon bedenklich
in allen Richtungen aus, und noch war überhaupt kaum ein ernstlicher Freier
dagewesen. Anbeter, schwärmerische Anbeter, bis zum Selbstmord schwärmerisch,
in Fülle — aber alles Knaben, Jungen, Milchbärte — alle sehr nett. Es wurde
auch keiner ganz zurückgestoßen, es konnte doch schlimmsten Falls mit irgend Einem
noch etwas werden. Für jeden hatte Staschka noch einen Blick, einen Hände¬
druck, der auf eine für ihn laut klingende Saite ihres Herzens schließen ließ.
Auch ich! O, ich war oft sehr selig! — Indeß ein Sperling in der Hand ist
immer mehr werth, als eine Taube auf dem Dache. In der Zeit, wo die
Noth schon groß war, wurden die Besuche eines benachbarten Wirthschafts-
inspeetors häufiger und häufiger. In der Nachbarschaft verlautete, der stattliche
Hermannowski bewerbe sich um die blühende Anastasia Kowalska. Anastasia
bestritt das: „Ein solcher Inspector wird doch nicht so dreist sein, mich hei-
rathen zu wollen!" Inzwischen wurde Rasselwitz endlich verkauft; bei der
Höhe der Güterpreise war es möglich, daß die Familie von dem Kaufgelde
noch ein nicht unbeträchtliches Kapital für sich erübrigte. Auf jedes Mitglied
traf etwa der Betrag von 2000 Thalern. Es war nicht polnisch, daß die Ko¬
walskis das Geld nicht sofort in Saus und Braus durchbrachter, sondern
ihre eingeschränkte Lebensweise fortsetzten. Fran K. zog mit ihrer Lieblings¬
tochter nach der Stadt und miethete sich eine bescheidene Wohnung. Anastasia
war aber thatsächlich jetzt erst in den Stand gesetzt, einen Mann zu nehmen,
weil sie erst jetzt mit einer Ausstattung versehen werden konnte. In der Stadt
ging immer bestimmter das Gerücht um, Herr Hermauuowski habe von Anastasia
das Jawort. Anastasia besuchte öfter meine Schwester, ihre „Freundin", und
betheuerte mit himmelwärts gerichteten Blicken, das sei eine Lüge, sie würde
keinen bloßen Inspector heirathen, sie könne auch den Menschen nicht leiden. Aber


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[0161] war demnach auf Schein und Aeußerlichkeit ohne Inhalt, ohne Realität abge¬ sehen. Als mit dem Tode des alten Kowalski in den ersten Vierziger-Jahren des Jahrhunderts die Vorbildung auch der jüngeren Sohne abgeschlossen war, fehlte ihnen sämmtlich jede innere Tüchtigkeit, auch die Fähigkeit, irgend einen Beruf auszufüllen, weil sie nicht im Stande waren, mit Ausdauer zu arbeiten. Und doch besaßen sie noch einen unschätzbaren Vorzug vor den meisten andern jungen Polen: durch das andauernd eingeschränkte Leben ihrer Eltern, auch wohl durch den vielfachen Verkehr mit Deutschen, blieben sie vor frühzeitiger Genußsucht und Ausschweifungen bewahrt, auch blieb ihnen trotz des Cynismus ihres Vaters Achtung vor dem weiblichen Geschlecht. Verfolgen wir nun zunächst das Schicksal von Anastasia. Der Graf wollte durchaus nicht kommen. Die zarte Röthe ihrer Wangen schlug schon in lebenskräf¬ tigen Purpur um, der sich zu ihrem Schrecken auch auf dem Kinn und auf dem feinen Näschen ausbreitete, ihr zierliches Figürchen dehnte sich schon bedenklich in allen Richtungen aus, und noch war überhaupt kaum ein ernstlicher Freier dagewesen. Anbeter, schwärmerische Anbeter, bis zum Selbstmord schwärmerisch, in Fülle — aber alles Knaben, Jungen, Milchbärte — alle sehr nett. Es wurde auch keiner ganz zurückgestoßen, es konnte doch schlimmsten Falls mit irgend Einem noch etwas werden. Für jeden hatte Staschka noch einen Blick, einen Hände¬ druck, der auf eine für ihn laut klingende Saite ihres Herzens schließen ließ. Auch ich! O, ich war oft sehr selig! — Indeß ein Sperling in der Hand ist immer mehr werth, als eine Taube auf dem Dache. In der Zeit, wo die Noth schon groß war, wurden die Besuche eines benachbarten Wirthschafts- inspeetors häufiger und häufiger. In der Nachbarschaft verlautete, der stattliche Hermannowski bewerbe sich um die blühende Anastasia Kowalska. Anastasia bestritt das: „Ein solcher Inspector wird doch nicht so dreist sein, mich hei- rathen zu wollen!" Inzwischen wurde Rasselwitz endlich verkauft; bei der Höhe der Güterpreise war es möglich, daß die Familie von dem Kaufgelde noch ein nicht unbeträchtliches Kapital für sich erübrigte. Auf jedes Mitglied traf etwa der Betrag von 2000 Thalern. Es war nicht polnisch, daß die Ko¬ walskis das Geld nicht sofort in Saus und Braus durchbrachter, sondern ihre eingeschränkte Lebensweise fortsetzten. Fran K. zog mit ihrer Lieblings¬ tochter nach der Stadt und miethete sich eine bescheidene Wohnung. Anastasia war aber thatsächlich jetzt erst in den Stand gesetzt, einen Mann zu nehmen, weil sie erst jetzt mit einer Ausstattung versehen werden konnte. In der Stadt ging immer bestimmter das Gerücht um, Herr Hermauuowski habe von Anastasia das Jawort. Anastasia besuchte öfter meine Schwester, ihre „Freundin", und betheuerte mit himmelwärts gerichteten Blicken, das sei eine Lüge, sie würde keinen bloßen Inspector heirathen, sie könne auch den Menschen nicht leiden. Aber Grenzboten 1. 1877. 20

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/161>, abgerufen am 23.07.2024.