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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Bei der Dame des Hauses kam ich besser weg, ihr küßte ich (allerdings ohne
Appetit) die welke Hand und wurde indeß von ihr auf den Kopf geküßt. Der
reizenden Anastaschka gegenüber schien es mir bei allem innern Drange, ihr
die zärtlichsten Höflichkeiten zu erweisen, doch schicklich, mich mit einem Hände¬
druck und einer Verbeugung zu begnügen. Merkwürdig! diese Hände, die ich
niemals bei der Arbeit sah, die namentlich niemals in der Küche beschäftigt
wurden, waren dennoch rauh und roth -- wie ich später erfuhr, zu großer
Bekümmerniß Anastaschkas. Daß noch eine ältere Tochter vorhanden war,
erfuhr ich zunächst gar nicht; sie war das Aschenbrödel der Familie und galt
nicht für gesellschaftsfähig. Und in der That, als ich Pauline später kennen
lernte, faud ich sie sehr unbeholfen im Umgang, was vielleicht daher kam, daß
sie immer fürchtete zu mißfallen; denn täglich und stündlich wurde sie von
ihrer Mutter und ihren Geschwistern durch Worte und durch zurücksetzende
Behandlung daran erinnert, daß sie nicht schön war. Aufrichtig gesprochen,
war sie es auch nicht, aber eben so wenig hatte sie irgend etwas Entstellendes
an Gesicht und Körper, wenn man nicht etwa die enge Stirn als solches an¬
sehen wollte. Bei Anastasia war dieser angebliche Sitz des Verstandes aller¬
dings viel ausgedehnter und wohlgestalteter, im übrigen besaß sie vor der
Schwester nur noch den Vorzug der größeren Frische und Rundung in Gesicht
und Körper. Dabei besaß Paula ein immerhin unverdorbenes Herz, Anastasia
dagegen an dessen Stelle einen Stein. Das war der Erfolg ihrer ungerechten
Bevorzugung durch die Mutter und infolge dessen auch durch ihre Brüder.

Diese schmähliche Vernachlässigung und Zurücksetzung unschöner Kinder,
besonders von Töchtern, die dann freilich auch oft verschuldete Verdummung nach
sich zieht, habe ich bei polnischen Familien mehrfach beobachtet; sie wirft einen
tiefen Schatten auf das Herz der polnischen Frauen, auch auf ihre Einsicht.
Eine deutsche Mutter wird sich wohl hüten, ein Kind fühlen zu lassen,
daß es von der Natur in seinem Aeußern vernachläßigt ist; anstatt es zurück¬
zusetzen, wird sie es eher mit doppelter Liebe umfassen. Ueberdieß weiß sie,
daß nicht die hübsche Larve den Werth des Menschen bestimmt und sein Lebens¬
glück entscheidet, sondern die Ausbildung seines Geistes und Herzens; darum
wird sie noch mehr bei ihren unschönen Kindern um diese Ausbildung bemüht
sein, als bei den schönen. Dieser Unterschied in dem Verhalten der Mütter
der beiden Nationen zu ihren Kindern -- die polnischen Väter kümmern sich
in der Regel gar nicht um die Erziehung ihrer Kinder -- gibt einen deutlichen
Fingerzeig dafür, daß die Polen in der Gesittung weit hinter den Deutschen
zurückstehen.

Doch kehren wir zu meinem ersten Besuch in Rasselwitz zurück. Ich stellte
weder über das Herz der habichtnüsigen Frau Kowalski noch über dasjenige der


Bei der Dame des Hauses kam ich besser weg, ihr küßte ich (allerdings ohne
Appetit) die welke Hand und wurde indeß von ihr auf den Kopf geküßt. Der
reizenden Anastaschka gegenüber schien es mir bei allem innern Drange, ihr
die zärtlichsten Höflichkeiten zu erweisen, doch schicklich, mich mit einem Hände¬
druck und einer Verbeugung zu begnügen. Merkwürdig! diese Hände, die ich
niemals bei der Arbeit sah, die namentlich niemals in der Küche beschäftigt
wurden, waren dennoch rauh und roth — wie ich später erfuhr, zu großer
Bekümmerniß Anastaschkas. Daß noch eine ältere Tochter vorhanden war,
erfuhr ich zunächst gar nicht; sie war das Aschenbrödel der Familie und galt
nicht für gesellschaftsfähig. Und in der That, als ich Pauline später kennen
lernte, faud ich sie sehr unbeholfen im Umgang, was vielleicht daher kam, daß
sie immer fürchtete zu mißfallen; denn täglich und stündlich wurde sie von
ihrer Mutter und ihren Geschwistern durch Worte und durch zurücksetzende
Behandlung daran erinnert, daß sie nicht schön war. Aufrichtig gesprochen,
war sie es auch nicht, aber eben so wenig hatte sie irgend etwas Entstellendes
an Gesicht und Körper, wenn man nicht etwa die enge Stirn als solches an¬
sehen wollte. Bei Anastasia war dieser angebliche Sitz des Verstandes aller¬
dings viel ausgedehnter und wohlgestalteter, im übrigen besaß sie vor der
Schwester nur noch den Vorzug der größeren Frische und Rundung in Gesicht
und Körper. Dabei besaß Paula ein immerhin unverdorbenes Herz, Anastasia
dagegen an dessen Stelle einen Stein. Das war der Erfolg ihrer ungerechten
Bevorzugung durch die Mutter und infolge dessen auch durch ihre Brüder.

Diese schmähliche Vernachlässigung und Zurücksetzung unschöner Kinder,
besonders von Töchtern, die dann freilich auch oft verschuldete Verdummung nach
sich zieht, habe ich bei polnischen Familien mehrfach beobachtet; sie wirft einen
tiefen Schatten auf das Herz der polnischen Frauen, auch auf ihre Einsicht.
Eine deutsche Mutter wird sich wohl hüten, ein Kind fühlen zu lassen,
daß es von der Natur in seinem Aeußern vernachläßigt ist; anstatt es zurück¬
zusetzen, wird sie es eher mit doppelter Liebe umfassen. Ueberdieß weiß sie,
daß nicht die hübsche Larve den Werth des Menschen bestimmt und sein Lebens¬
glück entscheidet, sondern die Ausbildung seines Geistes und Herzens; darum
wird sie noch mehr bei ihren unschönen Kindern um diese Ausbildung bemüht
sein, als bei den schönen. Dieser Unterschied in dem Verhalten der Mütter
der beiden Nationen zu ihren Kindern — die polnischen Väter kümmern sich
in der Regel gar nicht um die Erziehung ihrer Kinder — gibt einen deutlichen
Fingerzeig dafür, daß die Polen in der Gesittung weit hinter den Deutschen
zurückstehen.

Doch kehren wir zu meinem ersten Besuch in Rasselwitz zurück. Ich stellte
weder über das Herz der habichtnüsigen Frau Kowalski noch über dasjenige der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/157>, abgerufen am 23.07.2024.