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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Und doch bedarf es vielleicht auch bloß eines Anstoßes von außen, und Ru߬
land findet auch dort die fanatischsten Gegner.

Gewiß trifft auch heute noch zu, was der "Goloß" damals vor dem
Chiwa-Kriege in einem Aufsatze "Unsere Beziehungen zu den mittelasiatischen
Charaden" ausgesprochen hat: "Es glauben bei uns viele--heißt es dort --
in vollem Ernste an jene Verträge; sie glauben an die Möglichkeit, daß inter¬
nationale Beziehungen mit den mittelasiatischen Herrschern bestehen können...
Speziell in Asien haben Verträge nicht die geringste Bedeutung. In Asien
achtet man nur die Macht: ist solche vorhanden, so werden unsere Forderungen
auch ohne das Bestehen von Verträgen erfüllt; ist keine Macht vorhanden,
so helfen auch Verträge nichts." "Nicht weniger irrthümlich" -- fährt der
"Goloß" dann fort-- "sind die Redensarten von den freundschaftlichen Gefühlen,
welche die benachbarten asiatischen Charade zu uns hegen. Abgesehen von
dem muhamedanischen Fanatismus, von welchem die mittelasiatischen Herrscher
durchdrungen sind, und welcher von der Geistlichkeit im Volke unterhalten
wird, darf auch nicht außer Acht gelassen werden, daß wir im Laufe der letzten
8--9 Jahre ihnen den größten Theil ihrer Gebiete fortnahmen und sie aus
unabhängigen Herrschern ersten Ranges zu solchen zweiten Ranges, ja fast zu
Vasallen gemacht haben. Wir täuschen uns nicht, sowohl die Herrscher wie
anch ihre Unterthanen hassen uns; wenn auch erstere sich bisweilen als unsere
Freunde stellen, so geschieht dies doch nur, weil sie jetzt durch die Umstände
dazu gezwungen sind."

Dadurch, daß jetzt nun auch Kokan dem russischen Reiche einverleibt ist,
wurde auch Kaschgar ein unmittelbarer Grenznachbar des Letzteren. Früher
im chinesischen Besitze, gelang es deck jetzigen Herrscher Inland-Bel in Folge
der Wirren des dnnganischen Aufstandes als Führer der Truppen Kokans im
Jahr 1864 die Fahnen des Islams auf den Mauern von Kaschgar aufzu¬
pflanzen. Jacub hat es aber verstanden, Chudvjar-Chan von Kokan bald in
den Hintergrund zu drängen und sich zum selbständigen Herrscher von Kasch¬
gar zu machen. Seine Herrschaft ist jetzt in Ost-Tnrkeswn unumschränkt und
sogar ganz populär.

Da das Gebiet -- wie gesagt -- früher zu China gehörte und Letzteres
auf Grund eines am 2. November 1860 zu Peking abgeschlossenen Vertrages
Rußland das Recht eingeräumt hatte, im Gebiete Kaschgar Handel treiben und
selbst Consuln halten zu können, -- so wurde Jacub-Bel als Usurpator der
Rechte Chinas von Rußland auch angehalten, den von demselben über¬
nommenen Verpflichtungen nachzukommen. Nur unter dieser Bedingung sollte
er als Herrscher von Kaschgar anerkannt werden. Es kostete indessen doch
große Mühe, Jacub willfährig zu machen. Erst am 8. Juni 1872 kam end-


Und doch bedarf es vielleicht auch bloß eines Anstoßes von außen, und Ru߬
land findet auch dort die fanatischsten Gegner.

Gewiß trifft auch heute noch zu, was der „Goloß" damals vor dem
Chiwa-Kriege in einem Aufsatze „Unsere Beziehungen zu den mittelasiatischen
Charaden" ausgesprochen hat: „Es glauben bei uns viele—heißt es dort —
in vollem Ernste an jene Verträge; sie glauben an die Möglichkeit, daß inter¬
nationale Beziehungen mit den mittelasiatischen Herrschern bestehen können...
Speziell in Asien haben Verträge nicht die geringste Bedeutung. In Asien
achtet man nur die Macht: ist solche vorhanden, so werden unsere Forderungen
auch ohne das Bestehen von Verträgen erfüllt; ist keine Macht vorhanden,
so helfen auch Verträge nichts." „Nicht weniger irrthümlich" — fährt der
„Goloß" dann fort— „sind die Redensarten von den freundschaftlichen Gefühlen,
welche die benachbarten asiatischen Charade zu uns hegen. Abgesehen von
dem muhamedanischen Fanatismus, von welchem die mittelasiatischen Herrscher
durchdrungen sind, und welcher von der Geistlichkeit im Volke unterhalten
wird, darf auch nicht außer Acht gelassen werden, daß wir im Laufe der letzten
8—9 Jahre ihnen den größten Theil ihrer Gebiete fortnahmen und sie aus
unabhängigen Herrschern ersten Ranges zu solchen zweiten Ranges, ja fast zu
Vasallen gemacht haben. Wir täuschen uns nicht, sowohl die Herrscher wie
anch ihre Unterthanen hassen uns; wenn auch erstere sich bisweilen als unsere
Freunde stellen, so geschieht dies doch nur, weil sie jetzt durch die Umstände
dazu gezwungen sind."

Dadurch, daß jetzt nun auch Kokan dem russischen Reiche einverleibt ist,
wurde auch Kaschgar ein unmittelbarer Grenznachbar des Letzteren. Früher
im chinesischen Besitze, gelang es deck jetzigen Herrscher Inland-Bel in Folge
der Wirren des dnnganischen Aufstandes als Führer der Truppen Kokans im
Jahr 1864 die Fahnen des Islams auf den Mauern von Kaschgar aufzu¬
pflanzen. Jacub hat es aber verstanden, Chudvjar-Chan von Kokan bald in
den Hintergrund zu drängen und sich zum selbständigen Herrscher von Kasch¬
gar zu machen. Seine Herrschaft ist jetzt in Ost-Tnrkeswn unumschränkt und
sogar ganz populär.

Da das Gebiet — wie gesagt — früher zu China gehörte und Letzteres
auf Grund eines am 2. November 1860 zu Peking abgeschlossenen Vertrages
Rußland das Recht eingeräumt hatte, im Gebiete Kaschgar Handel treiben und
selbst Consuln halten zu können, — so wurde Jacub-Bel als Usurpator der
Rechte Chinas von Rußland auch angehalten, den von demselben über¬
nommenen Verpflichtungen nachzukommen. Nur unter dieser Bedingung sollte
er als Herrscher von Kaschgar anerkannt werden. Es kostete indessen doch
große Mühe, Jacub willfährig zu machen. Erst am 8. Juni 1872 kam end-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/101>, abgerufen am 23.07.2024.