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Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band.

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Fanatismus, das noch immer in seinen Bekennern lodert. Noch hente ist der
Großherr in Stambul alles der Nachfolger der Chalifen. Wir haben gesehen,
wie sich der Emir von Buchara, der Chan von Chiwa um Hülfe gegen die
Russen nach Konstantinopel wandten. Jacub-Bel, der Herrscher von Kaschgar,
sandte vor seinem jüngsten Kampfe mit den Chinesen Botschaft an den Sultan,
in der er demselben seine Huldigungen darbrachte und für seinen Glanbeus-
kampf die Segnungen Allahs erflehte. Die thatsächliche Schwäche des Be¬
herrschers der Gläubigen ändert an dieser Zusammengehörigkeit nichts, ja die
augenblicklich bedrängte Lage desselben möchte solche vielleicht erst recht stärken.
Schon hört man wieder von Gährungen unter den Turkmenen, speciell durch
die augenblickliche Lage des Sultans veranlaßt. Wie nahe liegt also die Mög¬
lichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß -- wenn es zu einer Katastrophe auf der
Balkan-Halbinsel kommt -- anch im Osten, in Mittelasien, sich die gewaltsamsten
Zuckungen in dem Verhältnisse Rußlands zu jenen Reichen fühlbar machen
werden?! -- Es bedarf der schärfsten Maßregeln, um die Aufregung nieder¬
zuhalten, und Humanitätsprincipien kann Rußland -- wie es so oft von ihm
verlangt wird -- in seiner gefahrvollen Lage nicht adoptiren.

Die bedeutendsten und nächsten Nachbarn Rußlands in Mittelasien sind
jetzt Chiwa, Buchara und Kaschgar.

Das erstere -- Chiwa -- hat in jüngster Zeit den wuchtigen Arm Ru߬
lands gefühlt. Seitdem beugt es sich dem Willen des Letzteren, seine Selbst--
Ständigkeit ist nicht viel mehr als ein bloßer Schein. Allerdings werden jetzt
-- wie schon oben erwähnt -- Nachrichten über Ereignisse laut, welche das
Verhältniß zu Rußland leicht wieder in andere Bahnen lenken könnten. Die
Bevölkerung Chiwas soll mit der Regierung des Chans und dessen russen¬
freundlicher Politik unzufrieden sein. Die Nomaden sollen wiederholt Em¬
pörungen versucht haben. Bewahrheitet sich dies Gerücht, was nur zu wahr¬
scheinlich ist, so wird Rußland wieder den Umständen weichen und wieder das
Schwert in die Wagschaale werfen müssen. Es ist dann sehr fraglich, ob es
selbst diesen Schein von Selbständigkeit dem Chan lassen kann, oder ob es
nicht geradezu gezwungen wird, die Verwaltung selbst in die Hand zu nehmen,
das Land ganz zu annectiren. Es ist das ein ganz drastischer Beleg für
meine ausgesprochene Behauptung, daß Rußland durch die Verhältnisse in
Mittelasien mehr getrieben wird, als selbst treibt, und daß die Annectirung
des rechten Ann-darja-Ufer eine gebotene war.

In Buchara scheint eine den Russen wirklich wohlwollende Politik Platz
gegriffen zu haben. Die wesentliche Unterstützung der Russen Seitens des
Emirs während der Chiwa-Expedition möchte dafür wohl Zeugniß ablegen.


Fanatismus, das noch immer in seinen Bekennern lodert. Noch hente ist der
Großherr in Stambul alles der Nachfolger der Chalifen. Wir haben gesehen,
wie sich der Emir von Buchara, der Chan von Chiwa um Hülfe gegen die
Russen nach Konstantinopel wandten. Jacub-Bel, der Herrscher von Kaschgar,
sandte vor seinem jüngsten Kampfe mit den Chinesen Botschaft an den Sultan,
in der er demselben seine Huldigungen darbrachte und für seinen Glanbeus-
kampf die Segnungen Allahs erflehte. Die thatsächliche Schwäche des Be¬
herrschers der Gläubigen ändert an dieser Zusammengehörigkeit nichts, ja die
augenblicklich bedrängte Lage desselben möchte solche vielleicht erst recht stärken.
Schon hört man wieder von Gährungen unter den Turkmenen, speciell durch
die augenblickliche Lage des Sultans veranlaßt. Wie nahe liegt also die Mög¬
lichkeit, ja Wahrscheinlichkeit, daß — wenn es zu einer Katastrophe auf der
Balkan-Halbinsel kommt — anch im Osten, in Mittelasien, sich die gewaltsamsten
Zuckungen in dem Verhältnisse Rußlands zu jenen Reichen fühlbar machen
werden?! — Es bedarf der schärfsten Maßregeln, um die Aufregung nieder¬
zuhalten, und Humanitätsprincipien kann Rußland — wie es so oft von ihm
verlangt wird — in seiner gefahrvollen Lage nicht adoptiren.

Die bedeutendsten und nächsten Nachbarn Rußlands in Mittelasien sind
jetzt Chiwa, Buchara und Kaschgar.

Das erstere — Chiwa — hat in jüngster Zeit den wuchtigen Arm Ru߬
lands gefühlt. Seitdem beugt es sich dem Willen des Letzteren, seine Selbst--
Ständigkeit ist nicht viel mehr als ein bloßer Schein. Allerdings werden jetzt
— wie schon oben erwähnt — Nachrichten über Ereignisse laut, welche das
Verhältniß zu Rußland leicht wieder in andere Bahnen lenken könnten. Die
Bevölkerung Chiwas soll mit der Regierung des Chans und dessen russen¬
freundlicher Politik unzufrieden sein. Die Nomaden sollen wiederholt Em¬
pörungen versucht haben. Bewahrheitet sich dies Gerücht, was nur zu wahr¬
scheinlich ist, so wird Rußland wieder den Umständen weichen und wieder das
Schwert in die Wagschaale werfen müssen. Es ist dann sehr fraglich, ob es
selbst diesen Schein von Selbständigkeit dem Chan lassen kann, oder ob es
nicht geradezu gezwungen wird, die Verwaltung selbst in die Hand zu nehmen,
das Land ganz zu annectiren. Es ist das ein ganz drastischer Beleg für
meine ausgesprochene Behauptung, daß Rußland durch die Verhältnisse in
Mittelasien mehr getrieben wird, als selbst treibt, und daß die Annectirung
des rechten Ann-darja-Ufer eine gebotene war.

In Buchara scheint eine den Russen wirklich wohlwollende Politik Platz
gegriffen zu haben. Die wesentliche Unterstützung der Russen Seitens des
Emirs während der Chiwa-Expedition möchte dafür wohl Zeugniß ablegen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 36, 1877, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341825_157640/100>, abgerufen am 23.07.2024.