Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.Einst machten finnische Grenzbewohner einen Streifzug nach dem Dorfe Eine andere Tradition erzählt von einer Finnenschaar, die sengend und Einst machten finnische Grenzbewohner einen Streifzug nach dem Dorfe Eine andere Tradition erzählt von einer Finnenschaar, die sengend und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0092" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/136731"/> <p xml:id="ID_246"> Einst machten finnische Grenzbewohner einen Streifzug nach dem Dorfe<lb/> Alajärwi, und nachdem sie dasselbe geplündert, wollten sie einen von ihnen<lb/> gehaßten und lange schon verfolgten Greis gewaltsam mit fortschleppen.<lb/> Während sie ihn nun längs des einen Ufers eines Sees hinführten, folgte<lb/> ihnen auf dem andern sein jüngster zwölfjähriger Sohn Lähonnen Tittta und<lb/> stieß fortwährend die Drohung aus, er wolle sie allesammt niederschießen,<lb/> wenn sie den Vater nicht in Freiheit setzten. Die Räuber waren jedoch nicht<lb/> gewillt, dieser Drohung Folge zu geben, sie verhöhnten den Knaben nur<lb/> und verfuhren um so grausamer mit dem Vater. Allein der Knabe ließ sich<lb/> nicht abschrecken, und die Feinde versprachen ihm endlich, seinem Begehren<lb/> unter der Bedingung zu willfahren, daß er vom entgegengesetzten Ufer aus<lb/> durch einen Pfeilschuß den Apfel zerspalte, den sie dem Vater auf den Kopf<lb/> legen würden. Der Knabe ging in der That auf diesen gefährlichen Versuch<lb/> ein, und der Vater gab ihm dabei folgenden Rath: „Erhebe deine Hand,<lb/> senke die andere; denn die Gewässer des Sees ziehen den Pfeil an." Der<lb/> Sohn that hiernach, und ganz gegen die Erwartung der Feinde traf der<lb/> Pfeil richtig sein Ziel, der Apfel fiel in zwei Stücken vom Haupte des Vaters<lb/> herab, und dieser wurde aus seiner Gefangenschaft befreit.</p><lb/> <p xml:id="ID_247" next="#ID_248"> Eine andere Tradition erzählt von einer Finnenschaar, die sengend und<lb/> brennend weit und breit im russischen Karelier hauste. Um so viel als<lb/> möglich vor dem plündernden Feinde zu retten, hatten die Bewohner des<lb/> Landes ihre Schätze vergraben und ihr vorräthiges Getreide theils dem Viehe<lb/> vorgeworfen, theils auf den Schnee gestreut, woraus ihnen später eine gute<lb/> Ernte erwuchs. Auf diesem Raubzuge überraschte der Feind einen Karelier<lb/> Lähonnen Tinea in tiefem Schlafe. Durch den Lärm aufgeweckt, sprang dieser<lb/> von seinem Lager auf, ergriff Bogen und Köcher, warf die Beinkleider über<lb/> den Arm und entfloh solchergestalt den Verfolgern. Er war ein schneller<lb/> Läufer und würde sich wohl durch die Flucht gerettet haben, doch nöthigte<lb/> ihn die strenge Kälte des Winters, an seine nackten Beine zu denken. Als<lb/> er daher einen kleinen Vorsprung erreicht hatte, blieb er stehen, um die Hosen<lb/> anzuziehen, allein kaum hatte er das eine Bein bedeckt, als die Feinde ihn<lb/> einholten. Voll Muth und Geistesgegenwart spannte er nun seinen Bogen,<lb/> richtete ihn bald auf den einen, bald auf den andern der herankommenden<lb/> Verfolger und rief dabei: „Hüte dich, ich schieße dich nieder!" Durch diese<lb/> List brachte er eine solche Verwirrung unter den Gegnern hervor, daß er wieder<lb/> Gelegenheit zur Flucht und zum Ankleiden fand, woraus er in die Tiefe der<lb/> Wälder verschwand. Die Räuber setzten dann ihren Streifzug fort und ge¬<lb/> langten nach Verübung vieler Gewaltthaten an die Ufer des Sees Tuoppa-<lb/> järwi. Von hier wünschten sie nach Pääjärwi zu fahren, und da sie des<lb/> Weges unkundig waren, zwangen sie einen Bauer in Kiisjoki, ihr Boot ans</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0092]
Einst machten finnische Grenzbewohner einen Streifzug nach dem Dorfe
Alajärwi, und nachdem sie dasselbe geplündert, wollten sie einen von ihnen
gehaßten und lange schon verfolgten Greis gewaltsam mit fortschleppen.
Während sie ihn nun längs des einen Ufers eines Sees hinführten, folgte
ihnen auf dem andern sein jüngster zwölfjähriger Sohn Lähonnen Tittta und
stieß fortwährend die Drohung aus, er wolle sie allesammt niederschießen,
wenn sie den Vater nicht in Freiheit setzten. Die Räuber waren jedoch nicht
gewillt, dieser Drohung Folge zu geben, sie verhöhnten den Knaben nur
und verfuhren um so grausamer mit dem Vater. Allein der Knabe ließ sich
nicht abschrecken, und die Feinde versprachen ihm endlich, seinem Begehren
unter der Bedingung zu willfahren, daß er vom entgegengesetzten Ufer aus
durch einen Pfeilschuß den Apfel zerspalte, den sie dem Vater auf den Kopf
legen würden. Der Knabe ging in der That auf diesen gefährlichen Versuch
ein, und der Vater gab ihm dabei folgenden Rath: „Erhebe deine Hand,
senke die andere; denn die Gewässer des Sees ziehen den Pfeil an." Der
Sohn that hiernach, und ganz gegen die Erwartung der Feinde traf der
Pfeil richtig sein Ziel, der Apfel fiel in zwei Stücken vom Haupte des Vaters
herab, und dieser wurde aus seiner Gefangenschaft befreit.
Eine andere Tradition erzählt von einer Finnenschaar, die sengend und
brennend weit und breit im russischen Karelier hauste. Um so viel als
möglich vor dem plündernden Feinde zu retten, hatten die Bewohner des
Landes ihre Schätze vergraben und ihr vorräthiges Getreide theils dem Viehe
vorgeworfen, theils auf den Schnee gestreut, woraus ihnen später eine gute
Ernte erwuchs. Auf diesem Raubzuge überraschte der Feind einen Karelier
Lähonnen Tinea in tiefem Schlafe. Durch den Lärm aufgeweckt, sprang dieser
von seinem Lager auf, ergriff Bogen und Köcher, warf die Beinkleider über
den Arm und entfloh solchergestalt den Verfolgern. Er war ein schneller
Läufer und würde sich wohl durch die Flucht gerettet haben, doch nöthigte
ihn die strenge Kälte des Winters, an seine nackten Beine zu denken. Als
er daher einen kleinen Vorsprung erreicht hatte, blieb er stehen, um die Hosen
anzuziehen, allein kaum hatte er das eine Bein bedeckt, als die Feinde ihn
einholten. Voll Muth und Geistesgegenwart spannte er nun seinen Bogen,
richtete ihn bald auf den einen, bald auf den andern der herankommenden
Verfolger und rief dabei: „Hüte dich, ich schieße dich nieder!" Durch diese
List brachte er eine solche Verwirrung unter den Gegnern hervor, daß er wieder
Gelegenheit zur Flucht und zum Ankleiden fand, woraus er in die Tiefe der
Wälder verschwand. Die Räuber setzten dann ihren Streifzug fort und ge¬
langten nach Verübung vieler Gewaltthaten an die Ufer des Sees Tuoppa-
järwi. Von hier wünschten sie nach Pääjärwi zu fahren, und da sie des
Weges unkundig waren, zwangen sie einen Bauer in Kiisjoki, ihr Boot ans
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