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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Ziel zu lenken. Auf dem Wege, den sie einschlagen wollten, befindet sich der
große Wasserfall von Niska. Als sie in der Nähe der Stromschnelle ober¬
halb desselben waren, steuerte der Bauer hart am Ufer hin, sprang plötzlich
auf eine über das Wasser hervorragende Felsplatte und stieß im Sprunge
das Fahrzeug in den Fluß hinaus. Die Feinde vermochten das Boot nun¬
mehr nicht zu lenken oder in seinem Treiben aufzuhalten, und die Strömung
führte sie in den brausenden Wasserfall hinab. Später las man an dessen
Tuße vierzig Mützen auf.

Der gefeierte Held, welcher finnisch Laurukäinen, läppisch Laurukadsch
heißt, hatte in Lappland, das ihm trefflich bekannt war, oft den russischen
Landesfeinden als Wegweiser gedient und sie in dieser Eigenschaft bei Fahrten
über Ströme und Seen ins Verderben zu führen gewußt. Einst hatten sie
ihn zum Steuermann den Patj"sti abwärts genommen. Als sie in die Nähe
einer Stromschnelle gekommen waren, band Laurukäinen ihre sieben Boote
zusammen und ermahnte die Russen, unter das Verdeck zu kriechen, damit
sie beim Anblick des furchtbaren Wasserfalles nicht in Schrecken geriethen.
Ohne eine Hinterlist zu ahnen, unterwarfen sich die Feinde diesem Rathe.
Nun aber steuerte jener die Boote dicht am Lande hin und rettete sich auf
eine vortretende Klippe, während die Russen in dem Falle umkamen.

Die Uebereinstimmung der Sage höchst verschiedenartiger und räumlich
weit von einander entfernter Völker ist also vorhanden, und die dänische
Tvkosage steht der schweizerischen vom Schützen Tell am Nächsten. Diese
Erscheinung aber erklärt sich nach Rochholz auf dem Wege literarhistorischer
Betrachtung. Das Werk des Saxo Grammaticus, welches die Tokosage ent¬
hält, ist zwar erst 1514 im Druck erschienen, hat aber ohne Zweifel schon
lange vorher in den Klosterbibliotheken handschriftlich cursirt und den Anna¬
listen zu Auszügen gedient. Solche Auszüge machte 1431 der Stralsunder
Mönch Thomas Gheysmer, und dessen Werk gelangte, wiederum auszugs¬
weise, 1480 zu Lübeck in niederdeutscher Uebersetzung zum Druck. Ist nun
daß Weiße Buch, wie bemerkt, diejenige schweizerische Chronik, welche die Ge¬
schichte von Tell zuerst bringt, um 1476 geschrieben, so liegen zwischen ihm
und der gedruckten Tokosage nur vier Jahre, und diese hat aller Wahrschein¬
lichkeit zufolge auf die Gestaltung jener Geschichte literarischen Einfluß geübt.
Diese Wahrscheinlichkeit wird aber zur Thatsache, wenn wir mit Rochholz
"uf die Streitfrage über die Abkunft des Schweizervolkes eingehen, welche seit
dem. fünfzehnten Jahrhundert von den Gelehrten der Cantone aufs hitzigste
verhandelt worden ist.

Bei Gelegenheit des "Alten Zürichkrieges", einem Streite zwischen Zürich
"ud Schwyz, bei welchem die Stadt Zürich österreichische Besatzung einnahm
und der Belagerung durch die Eidgenossen trotzte, erwachten unter dem gegen-


Grenzb.'den IV. 187"!. 12

Ziel zu lenken. Auf dem Wege, den sie einschlagen wollten, befindet sich der
große Wasserfall von Niska. Als sie in der Nähe der Stromschnelle ober¬
halb desselben waren, steuerte der Bauer hart am Ufer hin, sprang plötzlich
auf eine über das Wasser hervorragende Felsplatte und stieß im Sprunge
das Fahrzeug in den Fluß hinaus. Die Feinde vermochten das Boot nun¬
mehr nicht zu lenken oder in seinem Treiben aufzuhalten, und die Strömung
führte sie in den brausenden Wasserfall hinab. Später las man an dessen
Tuße vierzig Mützen auf.

Der gefeierte Held, welcher finnisch Laurukäinen, läppisch Laurukadsch
heißt, hatte in Lappland, das ihm trefflich bekannt war, oft den russischen
Landesfeinden als Wegweiser gedient und sie in dieser Eigenschaft bei Fahrten
über Ströme und Seen ins Verderben zu führen gewußt. Einst hatten sie
ihn zum Steuermann den Patj»sti abwärts genommen. Als sie in die Nähe
einer Stromschnelle gekommen waren, band Laurukäinen ihre sieben Boote
zusammen und ermahnte die Russen, unter das Verdeck zu kriechen, damit
sie beim Anblick des furchtbaren Wasserfalles nicht in Schrecken geriethen.
Ohne eine Hinterlist zu ahnen, unterwarfen sich die Feinde diesem Rathe.
Nun aber steuerte jener die Boote dicht am Lande hin und rettete sich auf
eine vortretende Klippe, während die Russen in dem Falle umkamen.

Die Uebereinstimmung der Sage höchst verschiedenartiger und räumlich
weit von einander entfernter Völker ist also vorhanden, und die dänische
Tvkosage steht der schweizerischen vom Schützen Tell am Nächsten. Diese
Erscheinung aber erklärt sich nach Rochholz auf dem Wege literarhistorischer
Betrachtung. Das Werk des Saxo Grammaticus, welches die Tokosage ent¬
hält, ist zwar erst 1514 im Druck erschienen, hat aber ohne Zweifel schon
lange vorher in den Klosterbibliotheken handschriftlich cursirt und den Anna¬
listen zu Auszügen gedient. Solche Auszüge machte 1431 der Stralsunder
Mönch Thomas Gheysmer, und dessen Werk gelangte, wiederum auszugs¬
weise, 1480 zu Lübeck in niederdeutscher Uebersetzung zum Druck. Ist nun
daß Weiße Buch, wie bemerkt, diejenige schweizerische Chronik, welche die Ge¬
schichte von Tell zuerst bringt, um 1476 geschrieben, so liegen zwischen ihm
und der gedruckten Tokosage nur vier Jahre, und diese hat aller Wahrschein¬
lichkeit zufolge auf die Gestaltung jener Geschichte literarischen Einfluß geübt.
Diese Wahrscheinlichkeit wird aber zur Thatsache, wenn wir mit Rochholz
"uf die Streitfrage über die Abkunft des Schweizervolkes eingehen, welche seit
dem. fünfzehnten Jahrhundert von den Gelehrten der Cantone aufs hitzigste
verhandelt worden ist.

Bei Gelegenheit des „Alten Zürichkrieges", einem Streite zwischen Zürich
"ud Schwyz, bei welchem die Stadt Zürich österreichische Besatzung einnahm
und der Belagerung durch die Eidgenossen trotzte, erwachten unter dem gegen-


Grenzb.'den IV. 187«!. 12
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[0093] Ziel zu lenken. Auf dem Wege, den sie einschlagen wollten, befindet sich der große Wasserfall von Niska. Als sie in der Nähe der Stromschnelle ober¬ halb desselben waren, steuerte der Bauer hart am Ufer hin, sprang plötzlich auf eine über das Wasser hervorragende Felsplatte und stieß im Sprunge das Fahrzeug in den Fluß hinaus. Die Feinde vermochten das Boot nun¬ mehr nicht zu lenken oder in seinem Treiben aufzuhalten, und die Strömung führte sie in den brausenden Wasserfall hinab. Später las man an dessen Tuße vierzig Mützen auf. Der gefeierte Held, welcher finnisch Laurukäinen, läppisch Laurukadsch heißt, hatte in Lappland, das ihm trefflich bekannt war, oft den russischen Landesfeinden als Wegweiser gedient und sie in dieser Eigenschaft bei Fahrten über Ströme und Seen ins Verderben zu führen gewußt. Einst hatten sie ihn zum Steuermann den Patj»sti abwärts genommen. Als sie in die Nähe einer Stromschnelle gekommen waren, band Laurukäinen ihre sieben Boote zusammen und ermahnte die Russen, unter das Verdeck zu kriechen, damit sie beim Anblick des furchtbaren Wasserfalles nicht in Schrecken geriethen. Ohne eine Hinterlist zu ahnen, unterwarfen sich die Feinde diesem Rathe. Nun aber steuerte jener die Boote dicht am Lande hin und rettete sich auf eine vortretende Klippe, während die Russen in dem Falle umkamen. Die Uebereinstimmung der Sage höchst verschiedenartiger und räumlich weit von einander entfernter Völker ist also vorhanden, und die dänische Tvkosage steht der schweizerischen vom Schützen Tell am Nächsten. Diese Erscheinung aber erklärt sich nach Rochholz auf dem Wege literarhistorischer Betrachtung. Das Werk des Saxo Grammaticus, welches die Tokosage ent¬ hält, ist zwar erst 1514 im Druck erschienen, hat aber ohne Zweifel schon lange vorher in den Klosterbibliotheken handschriftlich cursirt und den Anna¬ listen zu Auszügen gedient. Solche Auszüge machte 1431 der Stralsunder Mönch Thomas Gheysmer, und dessen Werk gelangte, wiederum auszugs¬ weise, 1480 zu Lübeck in niederdeutscher Uebersetzung zum Druck. Ist nun daß Weiße Buch, wie bemerkt, diejenige schweizerische Chronik, welche die Ge¬ schichte von Tell zuerst bringt, um 1476 geschrieben, so liegen zwischen ihm und der gedruckten Tokosage nur vier Jahre, und diese hat aller Wahrschein¬ lichkeit zufolge auf die Gestaltung jener Geschichte literarischen Einfluß geübt. Diese Wahrscheinlichkeit wird aber zur Thatsache, wenn wir mit Rochholz "uf die Streitfrage über die Abkunft des Schweizervolkes eingehen, welche seit dem. fünfzehnten Jahrhundert von den Gelehrten der Cantone aufs hitzigste verhandelt worden ist. Bei Gelegenheit des „Alten Zürichkrieges", einem Streite zwischen Zürich "ud Schwyz, bei welchem die Stadt Zürich österreichische Besatzung einnahm und der Belagerung durch die Eidgenossen trotzte, erwachten unter dem gegen- Grenzb.'den IV. 187«!. 12

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/93>, abgerufen am 27.09.2024.