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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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der Seher erblickt, wenn in einem Hause ein Sterbefall zu fürchten ist, auf
dem Dache desselben entweder eine weiße Henne oder ein kleines Kind im flie¬
genden Hemdchen. In Schwaben sehen die Mädchen in der Christnacht in den
"Höhlhafen" am Feuerheerd, wo sie dann die nackte Gestalt ihres künftigen
Mannes gewahr werden. Im Harz schließt sich das heirathslustige Mädchen
am Andreasabend mit Einbruch der Nacht in ihre Schlafkammer, zieht sich
nackt aus. nimmt zwei Becher, gießt in den einen Wasser, in den andern
Wein und stellt sie auf einen weiß gedeckten Tisch. Dann spricht sie die
Reime: "Bettstand, ich tritt Dich, Sanct Andres, ich bitt' Dich, laß doch
erscheinen, den Herzallerliebsten, den Meinen" u. s. w., wobei sie den einen
Fuß auf's Bett setzt. Alsdann kommt die Gestalt des künftigen Bräutigams
herein und leert einen der beiden Becher. Trinkt er den Wein, so wird das
Mädchen an ihm einen reichen, trinkt er das Wasser, so wird sie an ihm
einen armen Mann bekommen. In Ostfriesland können manche Leute, wenn
eine Pfarrstelle erledigt ist, den künftigen Pfarrer auf der Kanzel sehen.

Fast allenthalben in Deutschland herrscht der schon kurz erwähnte
Glaube, daß Pferde und Hunde Seher- und Prophetengabe besitzen. In
Ostpreußen meint man, ein im Finstern schnaubendes Pferd sehe den Tod.
Wenn Pferde vor einem Hause scheuen und nicht vorbei wollen, heißt es am
Rhein, so stirbt bald jemand in demselben. Allgemein ist die Meinung, daß
Hundegeheul vor einem Hause Unheil bedeute. Sieht das Thier dabei zur
Erde, so zeigt es den Tod eines Mitgliedes der Familie an, blickt es nach
dem Dache hinauf, so wird dieses nächstens in Flammen stehen. Nicht alle
Hunde haben diese prophetische Eigenschaft; die sie aber besitzen, laufen in der
Rache umher, bleiben vor der Thür, in die in Kurzem der Tod treten wird,
stehen, spreizen die Beine weit auseinander und beginnen dann kläglich zu
heulen. Ein solcher Hund, in Tirol "Toadereara". Todtenheuler, genannt,
Wurde nach Alpenburg den Leuten in einem Dorfe bei Innsbruck durch mehr¬
maliges Eintreffen selner Prophezeiungen so unheimlich, daß sie ihn ver¬
gifteten.

In Westphalen wird das Voraussehen der Zukunft auf diesem Wege
"Schichten" genannt. Hunde können schichten oder, wie man auch sagt,
"schichtern". desgleichen Eulen, die durch ihr Geschrei wie jene durch ihr Ge¬
heul verkünden, daß dem Hause desjenigen, in dessen Nähe sie laut werden,
°in Todesfall bevorsteht. Bei Kühn finden wir ferner über diesen Aberglauben
Agende Notizen gesammelt. Menschen, welche die Gabe besitzen, Vorgeschichten
sehen, können sich dem Drange dazu nicht entziehen, mitten in der Nacht
treibt es sie aus dem Bette an den Ort, wo sie die Erscheinung wahr¬
nehmen sollen. Sie gewahren dann gewöhnlich einen Leichenzug oder einen


der Seher erblickt, wenn in einem Hause ein Sterbefall zu fürchten ist, auf
dem Dache desselben entweder eine weiße Henne oder ein kleines Kind im flie¬
genden Hemdchen. In Schwaben sehen die Mädchen in der Christnacht in den
„Höhlhafen" am Feuerheerd, wo sie dann die nackte Gestalt ihres künftigen
Mannes gewahr werden. Im Harz schließt sich das heirathslustige Mädchen
am Andreasabend mit Einbruch der Nacht in ihre Schlafkammer, zieht sich
nackt aus. nimmt zwei Becher, gießt in den einen Wasser, in den andern
Wein und stellt sie auf einen weiß gedeckten Tisch. Dann spricht sie die
Reime: „Bettstand, ich tritt Dich, Sanct Andres, ich bitt' Dich, laß doch
erscheinen, den Herzallerliebsten, den Meinen" u. s. w., wobei sie den einen
Fuß auf's Bett setzt. Alsdann kommt die Gestalt des künftigen Bräutigams
herein und leert einen der beiden Becher. Trinkt er den Wein, so wird das
Mädchen an ihm einen reichen, trinkt er das Wasser, so wird sie an ihm
einen armen Mann bekommen. In Ostfriesland können manche Leute, wenn
eine Pfarrstelle erledigt ist, den künftigen Pfarrer auf der Kanzel sehen.

Fast allenthalben in Deutschland herrscht der schon kurz erwähnte
Glaube, daß Pferde und Hunde Seher- und Prophetengabe besitzen. In
Ostpreußen meint man, ein im Finstern schnaubendes Pferd sehe den Tod.
Wenn Pferde vor einem Hause scheuen und nicht vorbei wollen, heißt es am
Rhein, so stirbt bald jemand in demselben. Allgemein ist die Meinung, daß
Hundegeheul vor einem Hause Unheil bedeute. Sieht das Thier dabei zur
Erde, so zeigt es den Tod eines Mitgliedes der Familie an, blickt es nach
dem Dache hinauf, so wird dieses nächstens in Flammen stehen. Nicht alle
Hunde haben diese prophetische Eigenschaft; die sie aber besitzen, laufen in der
Rache umher, bleiben vor der Thür, in die in Kurzem der Tod treten wird,
stehen, spreizen die Beine weit auseinander und beginnen dann kläglich zu
heulen. Ein solcher Hund, in Tirol „Toadereara". Todtenheuler, genannt,
Wurde nach Alpenburg den Leuten in einem Dorfe bei Innsbruck durch mehr¬
maliges Eintreffen selner Prophezeiungen so unheimlich, daß sie ihn ver¬
gifteten.

In Westphalen wird das Voraussehen der Zukunft auf diesem Wege
»Schichten" genannt. Hunde können schichten oder, wie man auch sagt,
»schichtern". desgleichen Eulen, die durch ihr Geschrei wie jene durch ihr Ge¬
heul verkünden, daß dem Hause desjenigen, in dessen Nähe sie laut werden,
°in Todesfall bevorsteht. Bei Kühn finden wir ferner über diesen Aberglauben
Agende Notizen gesammelt. Menschen, welche die Gabe besitzen, Vorgeschichten
sehen, können sich dem Drange dazu nicht entziehen, mitten in der Nacht
treibt es sie aus dem Bette an den Ort, wo sie die Erscheinung wahr¬
nehmen sollen. Sie gewahren dann gewöhnlich einen Leichenzug oder einen


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[0369] der Seher erblickt, wenn in einem Hause ein Sterbefall zu fürchten ist, auf dem Dache desselben entweder eine weiße Henne oder ein kleines Kind im flie¬ genden Hemdchen. In Schwaben sehen die Mädchen in der Christnacht in den „Höhlhafen" am Feuerheerd, wo sie dann die nackte Gestalt ihres künftigen Mannes gewahr werden. Im Harz schließt sich das heirathslustige Mädchen am Andreasabend mit Einbruch der Nacht in ihre Schlafkammer, zieht sich nackt aus. nimmt zwei Becher, gießt in den einen Wasser, in den andern Wein und stellt sie auf einen weiß gedeckten Tisch. Dann spricht sie die Reime: „Bettstand, ich tritt Dich, Sanct Andres, ich bitt' Dich, laß doch erscheinen, den Herzallerliebsten, den Meinen" u. s. w., wobei sie den einen Fuß auf's Bett setzt. Alsdann kommt die Gestalt des künftigen Bräutigams herein und leert einen der beiden Becher. Trinkt er den Wein, so wird das Mädchen an ihm einen reichen, trinkt er das Wasser, so wird sie an ihm einen armen Mann bekommen. In Ostfriesland können manche Leute, wenn eine Pfarrstelle erledigt ist, den künftigen Pfarrer auf der Kanzel sehen. Fast allenthalben in Deutschland herrscht der schon kurz erwähnte Glaube, daß Pferde und Hunde Seher- und Prophetengabe besitzen. In Ostpreußen meint man, ein im Finstern schnaubendes Pferd sehe den Tod. Wenn Pferde vor einem Hause scheuen und nicht vorbei wollen, heißt es am Rhein, so stirbt bald jemand in demselben. Allgemein ist die Meinung, daß Hundegeheul vor einem Hause Unheil bedeute. Sieht das Thier dabei zur Erde, so zeigt es den Tod eines Mitgliedes der Familie an, blickt es nach dem Dache hinauf, so wird dieses nächstens in Flammen stehen. Nicht alle Hunde haben diese prophetische Eigenschaft; die sie aber besitzen, laufen in der Rache umher, bleiben vor der Thür, in die in Kurzem der Tod treten wird, stehen, spreizen die Beine weit auseinander und beginnen dann kläglich zu heulen. Ein solcher Hund, in Tirol „Toadereara". Todtenheuler, genannt, Wurde nach Alpenburg den Leuten in einem Dorfe bei Innsbruck durch mehr¬ maliges Eintreffen selner Prophezeiungen so unheimlich, daß sie ihn ver¬ gifteten. In Westphalen wird das Voraussehen der Zukunft auf diesem Wege »Schichten" genannt. Hunde können schichten oder, wie man auch sagt, »schichtern". desgleichen Eulen, die durch ihr Geschrei wie jene durch ihr Ge¬ heul verkünden, daß dem Hause desjenigen, in dessen Nähe sie laut werden, °in Todesfall bevorsteht. Bei Kühn finden wir ferner über diesen Aberglauben Agende Notizen gesammelt. Menschen, welche die Gabe besitzen, Vorgeschichten sehen, können sich dem Drange dazu nicht entziehen, mitten in der Nacht treibt es sie aus dem Bette an den Ort, wo sie die Erscheinung wahr¬ nehmen sollen. Sie gewahren dann gewöhnlich einen Leichenzug oder einen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/369>, abgerufen am 19.10.2024.