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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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seinem Dorfe gewöhnlich, er habe auf seiner vorletzten Jagd eine weiße Gemse
angetroffen. In Zierl bei Innsbruck sehen nach Alpenburg die Leute, welche
in den dem Kirchhofe zugekehrten Häusern wohnen, in der Mitternachts-
stunde Leichenzuge mit den Personen, die nächstens sterben werden, wes¬
halb man diese Wohnungen meidet und sie den Armen unentgeltlich
überläßt.

Die Gabe des zweiten Gesichts ist in Tirol von Jedem zu erwerben, da
sie an bestimmte Zeiten gebunden ist, die man nur zu benutzen braucht, um
gewisse zukünftige Dinge zu erfahren. Wer in Alpach in der Christnacht
rücklings aus dem Hause geht und dabei zum First hinaufblickt, der sieht,
wenn im folgenden Jahre jemand aus dem Hause sterben soll, eine Leiche.
Umschreitet man in derselben Nacht dreimal sein Haus, so erscheint einem
der künftige Gatte, und gute oder horcht man in den Backofen, so sieht oder
hört man sein Schicksal in den nächsten zwölf Monaten. Stellt man sich
zu Serfaus in der heiligen Nacht um zwölf Uhr auf den Friedhof, so erscheinen
einem alle, welche im folgenden Jahre den Tod zu erwarten haben, und
zwar stehen sie auf der Mauer und tragen rothe Strümpfe. Wer sich,
während es zur Christmette läutet, unter drei Brücken die Augen wäscht, be¬
kommt alles, was das künftige Jahr bringen wird, zu sehen. Bon der
Sylvesternacht heißt es im Innthale, wer in ihr um die zwölfte Stunde sich
nach der Kirche begebe, sehe alle, die im neuen Jahre zu sterben bestimmt,
seien, um den Altar zum Opfer gehen, und solle man selbst sterben, so sehe
man sich selbst darunter, aber ohne Kopf.

In Oberösterreich gehören zu den Volkspropheten die "Leichenseher"'
die in der Sylvesternacht geboren werden und wochenlang Todesfälle vor¬
aussagen, die sich ihnen durch Visionen ankündigen, in welchen sieden
Leichenzug des Betreffenden vor sich haben. Der Kanton Glarus hat seine
"Kirchgangschauerinnen", die auch "Fronfastenkinder" heißen und gleichfalls
Sterbefälle in Gesichten vorauserfahren.

In Schlesien und Ostpreußen ist die Gabe des zweiten Gesichts in
manchen Familien erblich und zeigt sich besonders bei Blödsinnigen und
anderen Geisteskranken. In Mecklenburg sowie im Lauenburgischen ist
wieder an eine gewisse Zeit und bestimmten Brauch gebunden und Allen zu¬
gänglich. Wer hier erfahren will, ob im Laufe des künftigen Jahres dem
Hause ein Todesfall oder eine Geburt bevorsteht, der geht in der Neujahrs'
Mitternacht, nachdem er ein weißes Laken über den Kopf gezogen, rücklings
zum Hause hinaus und blickt nach dessen First hinauf. Gewahrt er dort
einen Sarg, so stirbt jemand, sieht er eine Wiege, so wird ein Kind geboren-
Bei den Wenden der Lausitz heißt das zweite Gesicht "Bosche sedleschko", ""d


seinem Dorfe gewöhnlich, er habe auf seiner vorletzten Jagd eine weiße Gemse
angetroffen. In Zierl bei Innsbruck sehen nach Alpenburg die Leute, welche
in den dem Kirchhofe zugekehrten Häusern wohnen, in der Mitternachts-
stunde Leichenzuge mit den Personen, die nächstens sterben werden, wes¬
halb man diese Wohnungen meidet und sie den Armen unentgeltlich
überläßt.

Die Gabe des zweiten Gesichts ist in Tirol von Jedem zu erwerben, da
sie an bestimmte Zeiten gebunden ist, die man nur zu benutzen braucht, um
gewisse zukünftige Dinge zu erfahren. Wer in Alpach in der Christnacht
rücklings aus dem Hause geht und dabei zum First hinaufblickt, der sieht,
wenn im folgenden Jahre jemand aus dem Hause sterben soll, eine Leiche.
Umschreitet man in derselben Nacht dreimal sein Haus, so erscheint einem
der künftige Gatte, und gute oder horcht man in den Backofen, so sieht oder
hört man sein Schicksal in den nächsten zwölf Monaten. Stellt man sich
zu Serfaus in der heiligen Nacht um zwölf Uhr auf den Friedhof, so erscheinen
einem alle, welche im folgenden Jahre den Tod zu erwarten haben, und
zwar stehen sie auf der Mauer und tragen rothe Strümpfe. Wer sich,
während es zur Christmette läutet, unter drei Brücken die Augen wäscht, be¬
kommt alles, was das künftige Jahr bringen wird, zu sehen. Bon der
Sylvesternacht heißt es im Innthale, wer in ihr um die zwölfte Stunde sich
nach der Kirche begebe, sehe alle, die im neuen Jahre zu sterben bestimmt,
seien, um den Altar zum Opfer gehen, und solle man selbst sterben, so sehe
man sich selbst darunter, aber ohne Kopf.

In Oberösterreich gehören zu den Volkspropheten die „Leichenseher"'
die in der Sylvesternacht geboren werden und wochenlang Todesfälle vor¬
aussagen, die sich ihnen durch Visionen ankündigen, in welchen sieden
Leichenzug des Betreffenden vor sich haben. Der Kanton Glarus hat seine
„Kirchgangschauerinnen", die auch „Fronfastenkinder" heißen und gleichfalls
Sterbefälle in Gesichten vorauserfahren.

In Schlesien und Ostpreußen ist die Gabe des zweiten Gesichts in
manchen Familien erblich und zeigt sich besonders bei Blödsinnigen und
anderen Geisteskranken. In Mecklenburg sowie im Lauenburgischen ist
wieder an eine gewisse Zeit und bestimmten Brauch gebunden und Allen zu¬
gänglich. Wer hier erfahren will, ob im Laufe des künftigen Jahres dem
Hause ein Todesfall oder eine Geburt bevorsteht, der geht in der Neujahrs'
Mitternacht, nachdem er ein weißes Laken über den Kopf gezogen, rücklings
zum Hause hinaus und blickt nach dessen First hinauf. Gewahrt er dort
einen Sarg, so stirbt jemand, sieht er eine Wiege, so wird ein Kind geboren-
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[0368] seinem Dorfe gewöhnlich, er habe auf seiner vorletzten Jagd eine weiße Gemse angetroffen. In Zierl bei Innsbruck sehen nach Alpenburg die Leute, welche in den dem Kirchhofe zugekehrten Häusern wohnen, in der Mitternachts- stunde Leichenzuge mit den Personen, die nächstens sterben werden, wes¬ halb man diese Wohnungen meidet und sie den Armen unentgeltlich überläßt. Die Gabe des zweiten Gesichts ist in Tirol von Jedem zu erwerben, da sie an bestimmte Zeiten gebunden ist, die man nur zu benutzen braucht, um gewisse zukünftige Dinge zu erfahren. Wer in Alpach in der Christnacht rücklings aus dem Hause geht und dabei zum First hinaufblickt, der sieht, wenn im folgenden Jahre jemand aus dem Hause sterben soll, eine Leiche. Umschreitet man in derselben Nacht dreimal sein Haus, so erscheint einem der künftige Gatte, und gute oder horcht man in den Backofen, so sieht oder hört man sein Schicksal in den nächsten zwölf Monaten. Stellt man sich zu Serfaus in der heiligen Nacht um zwölf Uhr auf den Friedhof, so erscheinen einem alle, welche im folgenden Jahre den Tod zu erwarten haben, und zwar stehen sie auf der Mauer und tragen rothe Strümpfe. Wer sich, während es zur Christmette läutet, unter drei Brücken die Augen wäscht, be¬ kommt alles, was das künftige Jahr bringen wird, zu sehen. Bon der Sylvesternacht heißt es im Innthale, wer in ihr um die zwölfte Stunde sich nach der Kirche begebe, sehe alle, die im neuen Jahre zu sterben bestimmt, seien, um den Altar zum Opfer gehen, und solle man selbst sterben, so sehe man sich selbst darunter, aber ohne Kopf. In Oberösterreich gehören zu den Volkspropheten die „Leichenseher"' die in der Sylvesternacht geboren werden und wochenlang Todesfälle vor¬ aussagen, die sich ihnen durch Visionen ankündigen, in welchen sieden Leichenzug des Betreffenden vor sich haben. Der Kanton Glarus hat seine „Kirchgangschauerinnen", die auch „Fronfastenkinder" heißen und gleichfalls Sterbefälle in Gesichten vorauserfahren. In Schlesien und Ostpreußen ist die Gabe des zweiten Gesichts in manchen Familien erblich und zeigt sich besonders bei Blödsinnigen und anderen Geisteskranken. In Mecklenburg sowie im Lauenburgischen ist wieder an eine gewisse Zeit und bestimmten Brauch gebunden und Allen zu¬ gänglich. Wer hier erfahren will, ob im Laufe des künftigen Jahres dem Hause ein Todesfall oder eine Geburt bevorsteht, der geht in der Neujahrs' Mitternacht, nachdem er ein weißes Laken über den Kopf gezogen, rücklings zum Hause hinaus und blickt nach dessen First hinauf. Gewahrt er dort einen Sarg, so stirbt jemand, sieht er eine Wiege, so wird ein Kind geboren- Bei den Wenden der Lausitz heißt das zweite Gesicht „Bosche sedleschko", »"d

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/368>, abgerufen am 27.09.2024.