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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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gültig sein kann, ob sie einer Realität entsprechen und entspringen, oder
nicht. Aller Genuß, alles Streben ist nur darauf gerichtet, das eigene innere
Leben mit solchen realistrten Vorstellungen zu erfüllen; sie zum Inhalt der
eignen Persönlichkeit zu rechnen, die eigene Existenz in ihnen und durch sie
zu erweitern.

Ehre und Ehrgefühl ist nun eine solche Erweiterung des Selbst¬
gefühls in Anderen und durch sie. Daß ich auch in dem Vorstel¬
lungskreise eines Andern und nicht blos in meinem eigenen Existenz
habe, daß meine Handlungen nicht nur von mir, sondern auch von Andern
gedacht und geschätzt werden, ist das Wesen der Ehre.

Bet der Scheidung in Subject und Object kann diese Selbsterweiterung
eine zweifache, eine subjective und objective sein; jenes indem die Andern,
wie wir selbst, uns denken und schätzen, dieses, indem die Andern unsern
Gedanken und Thaten nachdenken und nachthun, sie zu ihrer objectiven
Persönlichkeit machen; wobei sogar ihr Bewußtsein, daß sie von uns
stammen, gleichgültig werden kann.

Das Gesagte zeigt (137), wie lächerlich es ist, die Ehre blos zu den
Gefühlen und Begierden zu rechnen. Sie hat einen geistigen Inhalt und
das Denken desselben ist von einem bestimmten Zustand der Seele, begleitet
den wir als Gefühl bezeichnen, und wo dieser Vorstellungskreis nur erst
gedacht und seine Realisirung gewünscht wird, macht er den Gegenstand einer
Begierde aus.

Bei der Entwicklungsfähigkeit der Seele giebt es verschiedene Stufen
und Arten des Ehrgefühls, die unter dem Gesichtspunkt der Selbsterweiterung
Lazarus jetzt näher ins Auge faßt. Die erste Stufe (138) ist das im Selbst¬
gefühl keimende Streben auch in Andern als ein Selbst gedacht zu werden,
der Wunsch von Andern beachtet zu werden. Es ist die Ehre des Kindes
die sich in diesem Streben kund, aber die meisten Menschen sind den je höheren
Ständen gegenüber wahre Kinder und empfinden Freuden von höheren ge¬
kannt, gegrüßt, beachtet zu werden, Kinder können unartig sein um sich be¬
merklich zu machen; Erwachsene scheuen sogar den Herostratusruhm nicht.
Aus dieser ersten Stufe der Selbsterfassung und Wahrnehmung entspringt die
zweite als S e ib se sah ätzun g. Diese ist der mittlere und durchschnittliche
Begriff der Ehre; der Mensch will dabei nicht blos beachtet, sondern ge¬
achtet sein; mit dem Werth den er in seinem Selbstgefühl sich selbst bei¬
legt, will er auch in der Seele des Andern existiren, gedacht und geschätzt
werden.

Ich übergehe die Darstellung der verschiedenen Formen, welche diese Stufe
im Jüngling, im Mann annimmt, die Gründe, warum grade bei Studenten,
beim Adel und Militär ein so viel reicherer Ehrtrieb vorhanden ist, auch die


gültig sein kann, ob sie einer Realität entsprechen und entspringen, oder
nicht. Aller Genuß, alles Streben ist nur darauf gerichtet, das eigene innere
Leben mit solchen realistrten Vorstellungen zu erfüllen; sie zum Inhalt der
eignen Persönlichkeit zu rechnen, die eigene Existenz in ihnen und durch sie
zu erweitern.

Ehre und Ehrgefühl ist nun eine solche Erweiterung des Selbst¬
gefühls in Anderen und durch sie. Daß ich auch in dem Vorstel¬
lungskreise eines Andern und nicht blos in meinem eigenen Existenz
habe, daß meine Handlungen nicht nur von mir, sondern auch von Andern
gedacht und geschätzt werden, ist das Wesen der Ehre.

Bet der Scheidung in Subject und Object kann diese Selbsterweiterung
eine zweifache, eine subjective und objective sein; jenes indem die Andern,
wie wir selbst, uns denken und schätzen, dieses, indem die Andern unsern
Gedanken und Thaten nachdenken und nachthun, sie zu ihrer objectiven
Persönlichkeit machen; wobei sogar ihr Bewußtsein, daß sie von uns
stammen, gleichgültig werden kann.

Das Gesagte zeigt (137), wie lächerlich es ist, die Ehre blos zu den
Gefühlen und Begierden zu rechnen. Sie hat einen geistigen Inhalt und
das Denken desselben ist von einem bestimmten Zustand der Seele, begleitet
den wir als Gefühl bezeichnen, und wo dieser Vorstellungskreis nur erst
gedacht und seine Realisirung gewünscht wird, macht er den Gegenstand einer
Begierde aus.

Bei der Entwicklungsfähigkeit der Seele giebt es verschiedene Stufen
und Arten des Ehrgefühls, die unter dem Gesichtspunkt der Selbsterweiterung
Lazarus jetzt näher ins Auge faßt. Die erste Stufe (138) ist das im Selbst¬
gefühl keimende Streben auch in Andern als ein Selbst gedacht zu werden,
der Wunsch von Andern beachtet zu werden. Es ist die Ehre des Kindes
die sich in diesem Streben kund, aber die meisten Menschen sind den je höheren
Ständen gegenüber wahre Kinder und empfinden Freuden von höheren ge¬
kannt, gegrüßt, beachtet zu werden, Kinder können unartig sein um sich be¬
merklich zu machen; Erwachsene scheuen sogar den Herostratusruhm nicht.
Aus dieser ersten Stufe der Selbsterfassung und Wahrnehmung entspringt die
zweite als S e ib se sah ätzun g. Diese ist der mittlere und durchschnittliche
Begriff der Ehre; der Mensch will dabei nicht blos beachtet, sondern ge¬
achtet sein; mit dem Werth den er in seinem Selbstgefühl sich selbst bei¬
legt, will er auch in der Seele des Andern existiren, gedacht und geschätzt
werden.

Ich übergehe die Darstellung der verschiedenen Formen, welche diese Stufe
im Jüngling, im Mann annimmt, die Gründe, warum grade bei Studenten,
beim Adel und Militär ein so viel reicherer Ehrtrieb vorhanden ist, auch die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/232>, abgerufen am 28.09.2024.