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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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fühl dem Wünschen und Wollen des Selbst sehr hohe Berechtigung zuschreibt;
ste werden wie der am Ostertag seiner Studirstube unter das fröhliche Volk
entronnene Faust rufen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein! Bei der
anderen in der Studirstube erträumten' Seelenlehre, da sie das Gefühl
verachten oder doch mit Hegel sagen, das Gefühl ist ein untergeordnetes, im
Wissen aufzuhebendes Moment der Entwicklung, muß man sich dagegen
eigentlich schämen ein Mensch zu sein, weil man fühlt und liebt und haßt.

L. beginnt seine Darstellung mit einer poetischen Schilderung von der
Macht der Ehre, und anknüpfend an Falstaff's Definition sucht er zu zeigen,
was Ehre sei. Das Ehrgefühl (131) erweist sich als Erfolg, ja als bloßer
Theil oder besondere Erscheinungsweise des Selbstgefühls und, in dessen
weiterer Entfaltung, des Selbstbewußtseins. Schon der Sprachgebrauch setzt
Ehr- und Selbstgefühl in nahe Verbindung, so daß beide Worte oft stell¬
vertretend gebraucht werden; denn als wer und was Einer sich selbst fühlt,
als solcher will er auch geehrt sein; das Selbstgefühl drückt nur das Maaß
für das Ehrgefühl aus. Der Mensch (132) denkt und fühlt sein Selbst,
seine -- als ein Ganzes geschlossene -- Existenz in diesem gesammten In¬
halte seiner Persönlichkeit und seiner Lebensverhältnisse (ich, der ich diese
Bildung besitze, diesem Stande, dieser Familie angehöre, diese Pflichten,
Pläne zu erfüllen habe u. s. w.); jede Vorstellung, jeder Wille ist nicht
blos Eigenthum, sondern ein Theil seines Selbst, in welchem er Sich,
^ h- sein Ich wiederkennt. In dem Selbstgefühl oder Selbstbewußtsein
liegt aber (S. 133) außer diesem Fühlen, inneren Wahrnehmen und Erfassen
seines Selbstinhalts noch ein zweites Moment, nämlich die Schätzung des¬
selben. Denn im Wesen der Persönlichkeit liegt es sich als ein Zwiefaches
ZU unterscheiden, als Subject und Object, als das Ich, das sich anschaut
Und als das, welches eben geschaut wird. Der Mensch, der sein Thun von
gestern beurtheilt, unterscheidet sich von seinem gestrigen Ich, ist damit zu¬
frieden oder unzufrieden; er als Subject urtheilt über sich als Object.

Nun ist gewiß (13ö), das Alles was der Mensch unmittelbar in seinem
Selbstbewußtsein hat. Alles, was er innerlich ist und thut und genießt,
"ur Vorstellungen und Gedanken sind. Zwar sind materieller Reichthum,
übliche Kraft sicherlich reale Dinge, aber die Freude der Seele darüber ist
doch noch eine über die V orstellung von Ihrem Besitze. Alles Materielle
verwandelt also der geistige Mensch in Gedanken und Vorstellungen und
wacht es zu seinem inneren Eigenthum, worauf der Geist sich in aller Weise
bezieht. Alle objectiven Verhältnisse, materielles Vermögen, reale Kräfte, Stand,
Stellung u. s. w. sind demnach für das Selbstbewußtsein und Selbstgefühl
""r Vorstellungen, welche zum Inhalt der objectiven Persönlichkeit (136)
eines Menschen gehören; Vorstellungen, an denen es natürlich nicht gleich-


fühl dem Wünschen und Wollen des Selbst sehr hohe Berechtigung zuschreibt;
ste werden wie der am Ostertag seiner Studirstube unter das fröhliche Volk
entronnene Faust rufen: Hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein! Bei der
anderen in der Studirstube erträumten' Seelenlehre, da sie das Gefühl
verachten oder doch mit Hegel sagen, das Gefühl ist ein untergeordnetes, im
Wissen aufzuhebendes Moment der Entwicklung, muß man sich dagegen
eigentlich schämen ein Mensch zu sein, weil man fühlt und liebt und haßt.

L. beginnt seine Darstellung mit einer poetischen Schilderung von der
Macht der Ehre, und anknüpfend an Falstaff's Definition sucht er zu zeigen,
was Ehre sei. Das Ehrgefühl (131) erweist sich als Erfolg, ja als bloßer
Theil oder besondere Erscheinungsweise des Selbstgefühls und, in dessen
weiterer Entfaltung, des Selbstbewußtseins. Schon der Sprachgebrauch setzt
Ehr- und Selbstgefühl in nahe Verbindung, so daß beide Worte oft stell¬
vertretend gebraucht werden; denn als wer und was Einer sich selbst fühlt,
als solcher will er auch geehrt sein; das Selbstgefühl drückt nur das Maaß
für das Ehrgefühl aus. Der Mensch (132) denkt und fühlt sein Selbst,
seine — als ein Ganzes geschlossene — Existenz in diesem gesammten In¬
halte seiner Persönlichkeit und seiner Lebensverhältnisse (ich, der ich diese
Bildung besitze, diesem Stande, dieser Familie angehöre, diese Pflichten,
Pläne zu erfüllen habe u. s. w.); jede Vorstellung, jeder Wille ist nicht
blos Eigenthum, sondern ein Theil seines Selbst, in welchem er Sich,
^ h- sein Ich wiederkennt. In dem Selbstgefühl oder Selbstbewußtsein
liegt aber (S. 133) außer diesem Fühlen, inneren Wahrnehmen und Erfassen
seines Selbstinhalts noch ein zweites Moment, nämlich die Schätzung des¬
selben. Denn im Wesen der Persönlichkeit liegt es sich als ein Zwiefaches
ZU unterscheiden, als Subject und Object, als das Ich, das sich anschaut
Und als das, welches eben geschaut wird. Der Mensch, der sein Thun von
gestern beurtheilt, unterscheidet sich von seinem gestrigen Ich, ist damit zu¬
frieden oder unzufrieden; er als Subject urtheilt über sich als Object.

Nun ist gewiß (13ö), das Alles was der Mensch unmittelbar in seinem
Selbstbewußtsein hat. Alles, was er innerlich ist und thut und genießt,
"ur Vorstellungen und Gedanken sind. Zwar sind materieller Reichthum,
übliche Kraft sicherlich reale Dinge, aber die Freude der Seele darüber ist
doch noch eine über die V orstellung von Ihrem Besitze. Alles Materielle
verwandelt also der geistige Mensch in Gedanken und Vorstellungen und
wacht es zu seinem inneren Eigenthum, worauf der Geist sich in aller Weise
bezieht. Alle objectiven Verhältnisse, materielles Vermögen, reale Kräfte, Stand,
Stellung u. s. w. sind demnach für das Selbstbewußtsein und Selbstgefühl
"»r Vorstellungen, welche zum Inhalt der objectiven Persönlichkeit (136)
eines Menschen gehören; Vorstellungen, an denen es natürlich nicht gleich-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/231>, abgerufen am 27.09.2024.