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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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seien Griechen und Römer unleugbar gebildete Nationen gewesen; aber die
Individuen waren Gelehrte, Künstler, Staatsmänner, nicht aber das, was man
Gebildete im engeren Sinne nennt. Bildung des Volkes und des Indivi¬
duums decken sich nicht, wie auch schon Gebildete und Ungebildete dieselbe
gebildete Sprache reden können (7, 8).

Diese Erscheinung ist zu wichtig, um nicht ihrer Ursache nachzugehen,
zumal Lazarus (S. 5) behauptet, in unseren Tagen würde der Begriff der
Bildung gar nicht mehr entstehen. Ich widerspreche dieser Ansicht und behaupte,
erwürbe heute entstehen, wie früher, wenn er noch nicht vorhanden wäre.

Warum fehlte den Alten der Begriff der Bildung? Weil ihnen der des
Lebens der Seele fehlte. Ihnen war die Seele nicht ein in der dreifachen
Thätigkeitsweise des Denkens, Fühlens und Wollen" sich äußerndes, einheitlich
persönliches Wesen, sondern sie nahmen verschiedene Seelen im Menschen an,
Plato drei, Aristotelos sogar fünf. Unter diesen galt das Denken und zwar
die selbstbewußtseinfrete reine Intelligenz als die höchste, aus dem Himmel
stammende Seele, während die anderen Seelen mit dem Selbstbewußtsein erst
durch den irdischen Leib, in dem die Intelligenz wie in einem Gefängniß
wohne, bedingt hießen. Diese griechische Seelenlehre ging parallel den griechi¬
schen Vorstellungen -- namentlich von Plato und Aristoteles -- über Gott,
der zu allen Zeiten der Seele ebenbildlich vorgestellt wurde. Gott erschien
als reine Intelligenz, die weder durch das individuelle Selbstbewußtsein in
ihrem allgemeinen Denken beschränkt, noch durch Wollen und Fühlen in
ihrer harmonischen Ruhe gestört werden durfte. Selbstbewußtsein, Wille und
Gefühl sollten also keine Wesensbestandtheile Gottes sein, sondern nur die
Intelligenz. Aehnlich urtheilte man über die menschliche Seele; in ihr sollten
die drei Momente nur schlechte Zugaben des irdischen Daseins sein, entstanden
durch den Einfluß der Materie.

Von einem Leben der Seele, von einer fortschrittlichen Entwick¬
lung der seelischen Kräfte, konnte dabei keine Rede sein. Die In¬
telligenz vermochte nur durch asketisches Fernhalten von den die niederen
Seelen des Begehrens und Selbstempsindens erregenden, sinnlichen Ein¬
drücken, ihre aus dem Himmel stammende Kraft rein zu erhalten. Erst
13. Jahrhundert tritt mit einem ausgeprägten Individualismus, sagt L.
(S. 6, 6) das was man Bildung nennt, wenn auch nur erst der Sache, nicht
dem Princip und bewußtem Ziel nach auf. Wir dürfen sagen, daß diese
Vorstellung von einer persönlichen Seele aufkam im Gefolge der Vorstellung
von einem persönlichen Gott, der nicht blos als Allweisheit reine Intelligenz
^ar, sondern als Heiligkeit reiner Wille und in seiner Liebe reines Gemüth,
und der'trotz dieser dreifachen Thätigkeitsweise als ein einheitlich lebendiges


seien Griechen und Römer unleugbar gebildete Nationen gewesen; aber die
Individuen waren Gelehrte, Künstler, Staatsmänner, nicht aber das, was man
Gebildete im engeren Sinne nennt. Bildung des Volkes und des Indivi¬
duums decken sich nicht, wie auch schon Gebildete und Ungebildete dieselbe
gebildete Sprache reden können (7, 8).

Diese Erscheinung ist zu wichtig, um nicht ihrer Ursache nachzugehen,
zumal Lazarus (S. 5) behauptet, in unseren Tagen würde der Begriff der
Bildung gar nicht mehr entstehen. Ich widerspreche dieser Ansicht und behaupte,
erwürbe heute entstehen, wie früher, wenn er noch nicht vorhanden wäre.

Warum fehlte den Alten der Begriff der Bildung? Weil ihnen der des
Lebens der Seele fehlte. Ihnen war die Seele nicht ein in der dreifachen
Thätigkeitsweise des Denkens, Fühlens und Wollen« sich äußerndes, einheitlich
persönliches Wesen, sondern sie nahmen verschiedene Seelen im Menschen an,
Plato drei, Aristotelos sogar fünf. Unter diesen galt das Denken und zwar
die selbstbewußtseinfrete reine Intelligenz als die höchste, aus dem Himmel
stammende Seele, während die anderen Seelen mit dem Selbstbewußtsein erst
durch den irdischen Leib, in dem die Intelligenz wie in einem Gefängniß
wohne, bedingt hießen. Diese griechische Seelenlehre ging parallel den griechi¬
schen Vorstellungen — namentlich von Plato und Aristoteles — über Gott,
der zu allen Zeiten der Seele ebenbildlich vorgestellt wurde. Gott erschien
als reine Intelligenz, die weder durch das individuelle Selbstbewußtsein in
ihrem allgemeinen Denken beschränkt, noch durch Wollen und Fühlen in
ihrer harmonischen Ruhe gestört werden durfte. Selbstbewußtsein, Wille und
Gefühl sollten also keine Wesensbestandtheile Gottes sein, sondern nur die
Intelligenz. Aehnlich urtheilte man über die menschliche Seele; in ihr sollten
die drei Momente nur schlechte Zugaben des irdischen Daseins sein, entstanden
durch den Einfluß der Materie.

Von einem Leben der Seele, von einer fortschrittlichen Entwick¬
lung der seelischen Kräfte, konnte dabei keine Rede sein. Die In¬
telligenz vermochte nur durch asketisches Fernhalten von den die niederen
Seelen des Begehrens und Selbstempsindens erregenden, sinnlichen Ein¬
drücken, ihre aus dem Himmel stammende Kraft rein zu erhalten. Erst
13. Jahrhundert tritt mit einem ausgeprägten Individualismus, sagt L.
(S. 6, 6) das was man Bildung nennt, wenn auch nur erst der Sache, nicht
dem Princip und bewußtem Ziel nach auf. Wir dürfen sagen, daß diese
Vorstellung von einer persönlichen Seele aufkam im Gefolge der Vorstellung
von einem persönlichen Gott, der nicht blos als Allweisheit reine Intelligenz
^ar, sondern als Heiligkeit reiner Wille und in seiner Liebe reines Gemüth,
und der'trotz dieser dreifachen Thätigkeitsweise als ein einheitlich lebendiges


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/195>, abgerufen am 20.10.2024.