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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band.

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Wesen gedacht wurde. Aber erst mit Kant, als er die Seele als eine frei¬
thätige, Wahrheit erobernde Kraft begreifen lehrt, war das Princip der
lebendigen Seele ein bewußtes Ziel der Denkenden. Nur blieb Kant leider
noch zu sehr in alt hergebrachten Anschauungen stehen und statt die
Seele als ein in Denken, Fühlen und Wollen freithätig und einheitlich sich
entwickelndes Wesen zu begreifen, sagt er nur: das Ich begleitet unsre Vor¬
stellungen; er scheidet, wie die Griechen und wie die Kirche Roms, welche die
Seelenlehre jener adopttrt hatte, hohe und niedere Seelenvermögen und er
läßt eigentlich nur der Vernunft die Entwicklung zukommen. Ja, indem er,
obgleich Ehrenretter der Vernunft, diese auf das Gebiet der Sinnlichkeit be¬
schränkte, so machte er sie eigentlich, ganz wie die Kirche, zu dem niederen
Vermögen, über welchem in Form der praktischen Vernunft das höhere Organ
des Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit steht.

Lazarus geht in diesem Punkt über Kant hinaus. Denken. Fühlen und
Wollen sind ihm nicht als höhere und niedere Vermögen getrennt, sie sind
ihm die durch die Induction gegebenen dreifachen Erscheinungsweisen der
Seele, die bei der einheitlichen Natur der Seele sämmtlich -- und nicht etwa
nur das Denken -- zu entwickeln und zu steigern sind. S. 10 unterscheidet
L. daher die Bildung der Intelligenz, der Sittlichkeit und der Aesthetik des
Lebens. Aber grade diese vertieftere Auffassung von der Entwicklung der
Seele beweist auch, daß der Begriff der Bildung ein stets bleibender sein
muß, weil man der Entwicklungsfähigkeit der Seele bewußt wurde; ja er hat
durch L. eine Steigerung erfahren; indem wir mit ihm unter Bildung die
dreifache Entwicklung des einheitlichen Wesens verstehen, in welchem bei der
Wechselbeziehung dieser dreifachen Erscheinungsweise die Bildung der einen
bereichernd und befruchtend auf die andere wirkt oder wirken soll. Die
Theorie der höheren und niederen Vermögen kennt diese Wechselbefruchtung
nicht; deshalb sagt man in heutiger Zeit noch in der Regel: Das Wissen
allein ist entwicklungsfähig, das Wissen steht ohne Beziehung zum Glauben,
und die Sittlichkeit ohne Beziehung zu Glauben und Wissen, und weil man
es sagt, so handelt man oft auch danach.

Ausführlich bespricht L. in selner Betrachtung nur das Verhältniß der
Bildung zur Wissenschaft. Er zeigt S. 10, daß die Bildung individuell, das
Wissen allgemein ist; aber indem der Einzelne als sociales Glied dasteht und
Theil nimmt am Geist des Volkes und der Menschheit, so wird damit die
individuelle Bildung zu einer ethischen Aufgabe, zu einer Verpflichtung
Aller (S. 22).

L. beantwortet nun die Frage, warum die Alten nicht den Begriff der
Bildung gehabt hätten, und giebt dabei einen anderen Grund an, als ich
eben that. Er sagt S. 25, es sei geschehen, weil der Einzelne nur aus dem


Wesen gedacht wurde. Aber erst mit Kant, als er die Seele als eine frei¬
thätige, Wahrheit erobernde Kraft begreifen lehrt, war das Princip der
lebendigen Seele ein bewußtes Ziel der Denkenden. Nur blieb Kant leider
noch zu sehr in alt hergebrachten Anschauungen stehen und statt die
Seele als ein in Denken, Fühlen und Wollen freithätig und einheitlich sich
entwickelndes Wesen zu begreifen, sagt er nur: das Ich begleitet unsre Vor¬
stellungen; er scheidet, wie die Griechen und wie die Kirche Roms, welche die
Seelenlehre jener adopttrt hatte, hohe und niedere Seelenvermögen und er
läßt eigentlich nur der Vernunft die Entwicklung zukommen. Ja, indem er,
obgleich Ehrenretter der Vernunft, diese auf das Gebiet der Sinnlichkeit be¬
schränkte, so machte er sie eigentlich, ganz wie die Kirche, zu dem niederen
Vermögen, über welchem in Form der praktischen Vernunft das höhere Organ
des Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit steht.

Lazarus geht in diesem Punkt über Kant hinaus. Denken. Fühlen und
Wollen sind ihm nicht als höhere und niedere Vermögen getrennt, sie sind
ihm die durch die Induction gegebenen dreifachen Erscheinungsweisen der
Seele, die bei der einheitlichen Natur der Seele sämmtlich — und nicht etwa
nur das Denken — zu entwickeln und zu steigern sind. S. 10 unterscheidet
L. daher die Bildung der Intelligenz, der Sittlichkeit und der Aesthetik des
Lebens. Aber grade diese vertieftere Auffassung von der Entwicklung der
Seele beweist auch, daß der Begriff der Bildung ein stets bleibender sein
muß, weil man der Entwicklungsfähigkeit der Seele bewußt wurde; ja er hat
durch L. eine Steigerung erfahren; indem wir mit ihm unter Bildung die
dreifache Entwicklung des einheitlichen Wesens verstehen, in welchem bei der
Wechselbeziehung dieser dreifachen Erscheinungsweise die Bildung der einen
bereichernd und befruchtend auf die andere wirkt oder wirken soll. Die
Theorie der höheren und niederen Vermögen kennt diese Wechselbefruchtung
nicht; deshalb sagt man in heutiger Zeit noch in der Regel: Das Wissen
allein ist entwicklungsfähig, das Wissen steht ohne Beziehung zum Glauben,
und die Sittlichkeit ohne Beziehung zu Glauben und Wissen, und weil man
es sagt, so handelt man oft auch danach.

Ausführlich bespricht L. in selner Betrachtung nur das Verhältniß der
Bildung zur Wissenschaft. Er zeigt S. 10, daß die Bildung individuell, das
Wissen allgemein ist; aber indem der Einzelne als sociales Glied dasteht und
Theil nimmt am Geist des Volkes und der Menschheit, so wird damit die
individuelle Bildung zu einer ethischen Aufgabe, zu einer Verpflichtung
Aller (S. 22).

L. beantwortet nun die Frage, warum die Alten nicht den Begriff der
Bildung gehabt hätten, und giebt dabei einen anderen Grund an, als ich
eben that. Er sagt S. 25, es sei geschehen, weil der Einzelne nur aus dem


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[0196] Wesen gedacht wurde. Aber erst mit Kant, als er die Seele als eine frei¬ thätige, Wahrheit erobernde Kraft begreifen lehrt, war das Princip der lebendigen Seele ein bewußtes Ziel der Denkenden. Nur blieb Kant leider noch zu sehr in alt hergebrachten Anschauungen stehen und statt die Seele als ein in Denken, Fühlen und Wollen freithätig und einheitlich sich entwickelndes Wesen zu begreifen, sagt er nur: das Ich begleitet unsre Vor¬ stellungen; er scheidet, wie die Griechen und wie die Kirche Roms, welche die Seelenlehre jener adopttrt hatte, hohe und niedere Seelenvermögen und er läßt eigentlich nur der Vernunft die Entwicklung zukommen. Ja, indem er, obgleich Ehrenretter der Vernunft, diese auf das Gebiet der Sinnlichkeit be¬ schränkte, so machte er sie eigentlich, ganz wie die Kirche, zu dem niederen Vermögen, über welchem in Form der praktischen Vernunft das höhere Organ des Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit steht. Lazarus geht in diesem Punkt über Kant hinaus. Denken. Fühlen und Wollen sind ihm nicht als höhere und niedere Vermögen getrennt, sie sind ihm die durch die Induction gegebenen dreifachen Erscheinungsweisen der Seele, die bei der einheitlichen Natur der Seele sämmtlich — und nicht etwa nur das Denken — zu entwickeln und zu steigern sind. S. 10 unterscheidet L. daher die Bildung der Intelligenz, der Sittlichkeit und der Aesthetik des Lebens. Aber grade diese vertieftere Auffassung von der Entwicklung der Seele beweist auch, daß der Begriff der Bildung ein stets bleibender sein muß, weil man der Entwicklungsfähigkeit der Seele bewußt wurde; ja er hat durch L. eine Steigerung erfahren; indem wir mit ihm unter Bildung die dreifache Entwicklung des einheitlichen Wesens verstehen, in welchem bei der Wechselbeziehung dieser dreifachen Erscheinungsweise die Bildung der einen bereichernd und befruchtend auf die andere wirkt oder wirken soll. Die Theorie der höheren und niederen Vermögen kennt diese Wechselbefruchtung nicht; deshalb sagt man in heutiger Zeit noch in der Regel: Das Wissen allein ist entwicklungsfähig, das Wissen steht ohne Beziehung zum Glauben, und die Sittlichkeit ohne Beziehung zu Glauben und Wissen, und weil man es sagt, so handelt man oft auch danach. Ausführlich bespricht L. in selner Betrachtung nur das Verhältniß der Bildung zur Wissenschaft. Er zeigt S. 10, daß die Bildung individuell, das Wissen allgemein ist; aber indem der Einzelne als sociales Glied dasteht und Theil nimmt am Geist des Volkes und der Menschheit, so wird damit die individuelle Bildung zu einer ethischen Aufgabe, zu einer Verpflichtung Aller (S. 22). L. beantwortet nun die Frage, warum die Alten nicht den Begriff der Bildung gehabt hätten, und giebt dabei einen anderen Grund an, als ich eben that. Er sagt S. 25, es sei geschehen, weil der Einzelne nur aus dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157686/196>, abgerufen am 27.09.2024.