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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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million entstanden sei. Doch noch bedenklichere Dinge stoßen auf. Nicht
nur, daß Lessing bisweilen, lediglich einer vorgefaßten Meinung zu Liebe,
ziemlich einfache Textstellen antiker Schrifsteller philologisch falsch interpretirt,
wie wenn er z. B. aus der Schilderung der Laokoonscene beim Virgil heraus¬
liest, daß die beiden Schlangen, während sie sich bereits auf den Vater stürzen,
die Söhne noch umschlungen halten, was keinem herauszulesen einfallen kann,
der die Laokoongruppe nicht kennt; daß er, wiederum verleitet durch ein
Vorurtheil, ein einfaches Bildwerk falsch erklärt, wie wenn er z. B. auf
dem Albanischen Meleagerrelief die deutlich dargestellten Furien zu "Mägden
der Althäa" machen will; daß er in beides zugleich, in falsche Interpretation
von Text und Bildwerk verfällt, wenn er läugnet, daß auf erhaltenen Denk¬
mälern Mars zur Rhea Silvia herabschwebend dargestellt worden sei und
daß bei Juvenal unter dem "schwebenden Mars", der auf den Helmen der
altrömischen Soldaten als Helmzier erschien, nur diese Scene gemeint sein
kann. Ja selbst an solchen Beispielen fehlt es nicht, daß er eine Dichtung als
Ganzes unrichtig auffaßt, wie wenn er im Sophokleischen "Philoktet" das
Hauptgewicht auf die Darstellung des körperlichen Schmerzes legt, daß er, weil
er sich einmal ungenügend im Homer umgesehen, eine unhaltbare Behauptung
ausspricht, wie die, daß "Unsichtbarkeit der natürliche Zustand der homerischen
Götter sei", daß er weitgehende Hypothesen aufstellt, wie darüber, auf welche
Art bei dem griechischen Dichter Pisander der Stoff des Laokoon behandelt
gewesen sein möge, Hypothesen, die, so geistreich und scharfsinnig sie sind,
doch nicht nur der Wahrscheinlichkeit entbehren, sondern sich geradezu wider¬
legen lassen.

Fast noch mißlicher aber sieht es um einen großen Theil der ästhetischen
Erörterungen im "Laokoon" aus. Gegen manche derselben muß Lessing selber,
noch ehe er seine Schrift vollendet hatte, mißtrauisch geworden sein. Als
Winckelmann's Kunstgeschichte erschienen war, schrieb er wenigstens! "Ich
wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben. Bloß aus
allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen,
die man über lang oder kurz, zu seiner Beschämung, in den Werken der
Kunst widerlegt findet." Dieses Mißtrauen war durchaus gerechtfertigt. Lessing's
Aesthetik wurzelt im Allgemeinen noch ganz in den Anschauungen seiner
Zeit. Sie basirt vor allen Dingen viel zu einseitig auf der Antike, sei es
nun auf der antiken Poesie oder Plastik; in der Poesie ist sie obendrein fast
lediglich vom Homer und Sophokles abstrahirt, die Lyrik hat kaum einen
Platz in seinem System, in der bildenden Kunst ist sie auf den engumgränz-
ten Denkmälervorrath seiner Zeit aufgebaut. In schroffer Einseitigkeit setzt
er den höchsten Endzweck der bildenden Kunst in die Schönheit; dabei ist
sein Schönheitsideal durchaus beschränkt, er sucht es fast nur in der körper-


million entstanden sei. Doch noch bedenklichere Dinge stoßen auf. Nicht
nur, daß Lessing bisweilen, lediglich einer vorgefaßten Meinung zu Liebe,
ziemlich einfache Textstellen antiker Schrifsteller philologisch falsch interpretirt,
wie wenn er z. B. aus der Schilderung der Laokoonscene beim Virgil heraus¬
liest, daß die beiden Schlangen, während sie sich bereits auf den Vater stürzen,
die Söhne noch umschlungen halten, was keinem herauszulesen einfallen kann,
der die Laokoongruppe nicht kennt; daß er, wiederum verleitet durch ein
Vorurtheil, ein einfaches Bildwerk falsch erklärt, wie wenn er z. B. auf
dem Albanischen Meleagerrelief die deutlich dargestellten Furien zu „Mägden
der Althäa" machen will; daß er in beides zugleich, in falsche Interpretation
von Text und Bildwerk verfällt, wenn er läugnet, daß auf erhaltenen Denk¬
mälern Mars zur Rhea Silvia herabschwebend dargestellt worden sei und
daß bei Juvenal unter dem „schwebenden Mars", der auf den Helmen der
altrömischen Soldaten als Helmzier erschien, nur diese Scene gemeint sein
kann. Ja selbst an solchen Beispielen fehlt es nicht, daß er eine Dichtung als
Ganzes unrichtig auffaßt, wie wenn er im Sophokleischen „Philoktet" das
Hauptgewicht auf die Darstellung des körperlichen Schmerzes legt, daß er, weil
er sich einmal ungenügend im Homer umgesehen, eine unhaltbare Behauptung
ausspricht, wie die, daß „Unsichtbarkeit der natürliche Zustand der homerischen
Götter sei", daß er weitgehende Hypothesen aufstellt, wie darüber, auf welche
Art bei dem griechischen Dichter Pisander der Stoff des Laokoon behandelt
gewesen sein möge, Hypothesen, die, so geistreich und scharfsinnig sie sind,
doch nicht nur der Wahrscheinlichkeit entbehren, sondern sich geradezu wider¬
legen lassen.

Fast noch mißlicher aber sieht es um einen großen Theil der ästhetischen
Erörterungen im „Laokoon" aus. Gegen manche derselben muß Lessing selber,
noch ehe er seine Schrift vollendet hatte, mißtrauisch geworden sein. Als
Winckelmann's Kunstgeschichte erschienen war, schrieb er wenigstens! „Ich
wage keinen Schritt weiter, ohne dieses Werk gelesen zu haben. Bloß aus
allgemeinen Begriffen über die Kunst vernünfteln, kann zu Grillen verführen,
die man über lang oder kurz, zu seiner Beschämung, in den Werken der
Kunst widerlegt findet." Dieses Mißtrauen war durchaus gerechtfertigt. Lessing's
Aesthetik wurzelt im Allgemeinen noch ganz in den Anschauungen seiner
Zeit. Sie basirt vor allen Dingen viel zu einseitig auf der Antike, sei es
nun auf der antiken Poesie oder Plastik; in der Poesie ist sie obendrein fast
lediglich vom Homer und Sophokles abstrahirt, die Lyrik hat kaum einen
Platz in seinem System, in der bildenden Kunst ist sie auf den engumgränz-
ten Denkmälervorrath seiner Zeit aufgebaut. In schroffer Einseitigkeit setzt
er den höchsten Endzweck der bildenden Kunst in die Schönheit; dabei ist
sein Schönheitsideal durchaus beschränkt, er sucht es fast nur in der körper-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/412>, abgerufen am 20.10.2024.