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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band.

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liehen Form; er hält ferner die menschliche Gestalt, und zwar in historischen
und mythologischen Compositionen, betnahe fin den einzigen würdigen Gegen¬
stand bildlicher Darstellung; von der Bedeutung der Landschaft, des Genre,
des Stilllebens hat er keine Ahnung; er hegt eine Vorliebe für Einzelfiguren
und für plastische Composition auch innerhalb der Malerei; für das specifisch
Malerische, namentlich auch für den Reiz der Farbe, hat er keinen Sinn.
Vieles von dem tritt allerdings im "Laokoon" nur gelegentlich und beiläufig
hervor. Aber auch einzelne ästhetische Fundamentalsätze der Schrift, auf die
sich Lessing das meiste zu gute thun mochte, haben vielfachen und berechtigten
Widerspruch erfahren. Der Satz, daß der von der bildenden Kunst zur Dar¬
stellung zu wählende Moment möglichst fruchtbar und prägnant sein müsse
und nicht die äußerste Stufe des Affects erreichen dürfe, weil er sonst der
Phantasie keinen Spielraum lassen würde, ist schlechterdings nicht aufrecht zu
erhalten; und der andere, eng damit verbundene Satz, daß der bildende
Künstler keinen transitorischen Moment darstellen dürfe, ist nur durch eine
sehr gefällige und nachgiebige Interpretation des Wortes "transitorisch"
allenfalls zu retten. Und nun gar die "trockene Schlußkette", wie er selber
sagt, in dem eigentlichen Hauptcapitel seiner Schrift, vermöge welcher er zu dem
berühmt gewordenen Satze gelangt, daß der eigentliche Gegenstand der Poesie
Handlungen, und der der bildenden Kunst Körper seien, und was weiter
daraus gefolgert wird, hat sie nicht etwas so mechanisch Construirtes, daß
sie an mehr als einer Stelle durchbrochen werden kann? Ganz zu schweigen
von beiläufigen ästhetischen Forderungen und Behauptungen, wie der, daß
der bildende Künstler nur dann eine Gottheit in Handlung einführen dürfe
wenn diese Handlung mit dem "personifirten Abstractum" d. h. mit der
gewöhnlichen typischen Erscheinung des Gottes nicht im Widerspruche stehe, oder
der, daß alle diejenigen alten Bildwerke den Namen von Kunstwerken nicht
verdienten, an denen sich "zu merkliche Spuren gottesdienstlicher Verabredungen
zeigen/' d. h. welche conventionelle Auffassung verrathen. Ueber welche Fülle
der schönsten und großartigsten Kunstwerke würde der Stab gebrochen sein,
wenn solche Sätze Giltigkeit erlangten! Und da phantasirt man noch immer
vom "Laokoon" als der "Stiftungsurkunde" und der "Uagna. etiart^" der
neueren Aesthetik? Nein, diese "Stiftungsurkunde" ist sehr verblichen und an
vielen Stellen kaum noch leserlich; dort aber, wo ihre Schrift noch heute
frisch und deutlich sichtbar ist, als wäre sie gestern erst geschrieben, dort ist
sie leider -- praktisch bedeutungslos, denn kein Künstler fragt nach ihr.

Wozu aber dann, wenn die Schrift wirklich so antiquirt ist. eine neue
Separatausgabe derselben? Hat sie wirklich noch ein anderes, als ein ge¬
schichtliches Interesse? Wäre es nicht gut, man überließe die Lectüre des
Buches dem Literarhistoriker, der ja manches anzusehen genöthigt ist, was außer


liehen Form; er hält ferner die menschliche Gestalt, und zwar in historischen
und mythologischen Compositionen, betnahe fin den einzigen würdigen Gegen¬
stand bildlicher Darstellung; von der Bedeutung der Landschaft, des Genre,
des Stilllebens hat er keine Ahnung; er hegt eine Vorliebe für Einzelfiguren
und für plastische Composition auch innerhalb der Malerei; für das specifisch
Malerische, namentlich auch für den Reiz der Farbe, hat er keinen Sinn.
Vieles von dem tritt allerdings im „Laokoon" nur gelegentlich und beiläufig
hervor. Aber auch einzelne ästhetische Fundamentalsätze der Schrift, auf die
sich Lessing das meiste zu gute thun mochte, haben vielfachen und berechtigten
Widerspruch erfahren. Der Satz, daß der von der bildenden Kunst zur Dar¬
stellung zu wählende Moment möglichst fruchtbar und prägnant sein müsse
und nicht die äußerste Stufe des Affects erreichen dürfe, weil er sonst der
Phantasie keinen Spielraum lassen würde, ist schlechterdings nicht aufrecht zu
erhalten; und der andere, eng damit verbundene Satz, daß der bildende
Künstler keinen transitorischen Moment darstellen dürfe, ist nur durch eine
sehr gefällige und nachgiebige Interpretation des Wortes „transitorisch"
allenfalls zu retten. Und nun gar die „trockene Schlußkette", wie er selber
sagt, in dem eigentlichen Hauptcapitel seiner Schrift, vermöge welcher er zu dem
berühmt gewordenen Satze gelangt, daß der eigentliche Gegenstand der Poesie
Handlungen, und der der bildenden Kunst Körper seien, und was weiter
daraus gefolgert wird, hat sie nicht etwas so mechanisch Construirtes, daß
sie an mehr als einer Stelle durchbrochen werden kann? Ganz zu schweigen
von beiläufigen ästhetischen Forderungen und Behauptungen, wie der, daß
der bildende Künstler nur dann eine Gottheit in Handlung einführen dürfe
wenn diese Handlung mit dem „personifirten Abstractum" d. h. mit der
gewöhnlichen typischen Erscheinung des Gottes nicht im Widerspruche stehe, oder
der, daß alle diejenigen alten Bildwerke den Namen von Kunstwerken nicht
verdienten, an denen sich „zu merkliche Spuren gottesdienstlicher Verabredungen
zeigen/' d. h. welche conventionelle Auffassung verrathen. Ueber welche Fülle
der schönsten und großartigsten Kunstwerke würde der Stab gebrochen sein,
wenn solche Sätze Giltigkeit erlangten! Und da phantasirt man noch immer
vom „Laokoon" als der „Stiftungsurkunde" und der „Uagna. etiart^" der
neueren Aesthetik? Nein, diese „Stiftungsurkunde" ist sehr verblichen und an
vielen Stellen kaum noch leserlich; dort aber, wo ihre Schrift noch heute
frisch und deutlich sichtbar ist, als wäre sie gestern erst geschrieben, dort ist
sie leider — praktisch bedeutungslos, denn kein Künstler fragt nach ihr.

Wozu aber dann, wenn die Schrift wirklich so antiquirt ist. eine neue
Separatausgabe derselben? Hat sie wirklich noch ein anderes, als ein ge¬
schichtliches Interesse? Wäre es nicht gut, man überließe die Lectüre des
Buches dem Literarhistoriker, der ja manches anzusehen genöthigt ist, was außer


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[0413] liehen Form; er hält ferner die menschliche Gestalt, und zwar in historischen und mythologischen Compositionen, betnahe fin den einzigen würdigen Gegen¬ stand bildlicher Darstellung; von der Bedeutung der Landschaft, des Genre, des Stilllebens hat er keine Ahnung; er hegt eine Vorliebe für Einzelfiguren und für plastische Composition auch innerhalb der Malerei; für das specifisch Malerische, namentlich auch für den Reiz der Farbe, hat er keinen Sinn. Vieles von dem tritt allerdings im „Laokoon" nur gelegentlich und beiläufig hervor. Aber auch einzelne ästhetische Fundamentalsätze der Schrift, auf die sich Lessing das meiste zu gute thun mochte, haben vielfachen und berechtigten Widerspruch erfahren. Der Satz, daß der von der bildenden Kunst zur Dar¬ stellung zu wählende Moment möglichst fruchtbar und prägnant sein müsse und nicht die äußerste Stufe des Affects erreichen dürfe, weil er sonst der Phantasie keinen Spielraum lassen würde, ist schlechterdings nicht aufrecht zu erhalten; und der andere, eng damit verbundene Satz, daß der bildende Künstler keinen transitorischen Moment darstellen dürfe, ist nur durch eine sehr gefällige und nachgiebige Interpretation des Wortes „transitorisch" allenfalls zu retten. Und nun gar die „trockene Schlußkette", wie er selber sagt, in dem eigentlichen Hauptcapitel seiner Schrift, vermöge welcher er zu dem berühmt gewordenen Satze gelangt, daß der eigentliche Gegenstand der Poesie Handlungen, und der der bildenden Kunst Körper seien, und was weiter daraus gefolgert wird, hat sie nicht etwas so mechanisch Construirtes, daß sie an mehr als einer Stelle durchbrochen werden kann? Ganz zu schweigen von beiläufigen ästhetischen Forderungen und Behauptungen, wie der, daß der bildende Künstler nur dann eine Gottheit in Handlung einführen dürfe wenn diese Handlung mit dem „personifirten Abstractum" d. h. mit der gewöhnlichen typischen Erscheinung des Gottes nicht im Widerspruche stehe, oder der, daß alle diejenigen alten Bildwerke den Namen von Kunstwerken nicht verdienten, an denen sich „zu merkliche Spuren gottesdienstlicher Verabredungen zeigen/' d. h. welche conventionelle Auffassung verrathen. Ueber welche Fülle der schönsten und großartigsten Kunstwerke würde der Stab gebrochen sein, wenn solche Sätze Giltigkeit erlangten! Und da phantasirt man noch immer vom „Laokoon" als der „Stiftungsurkunde" und der „Uagna. etiart^" der neueren Aesthetik? Nein, diese „Stiftungsurkunde" ist sehr verblichen und an vielen Stellen kaum noch leserlich; dort aber, wo ihre Schrift noch heute frisch und deutlich sichtbar ist, als wäre sie gestern erst geschrieben, dort ist sie leider — praktisch bedeutungslos, denn kein Künstler fragt nach ihr. Wozu aber dann, wenn die Schrift wirklich so antiquirt ist. eine neue Separatausgabe derselben? Hat sie wirklich noch ein anderes, als ein ge¬ schichtliches Interesse? Wäre es nicht gut, man überließe die Lectüre des Buches dem Literarhistoriker, der ja manches anzusehen genöthigt ist, was außer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157684/413>, abgerufen am 27.09.2024.