Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.bühnenfähig ist, beim Lesen einen solchen Genuß und Eindruck bewirken, daß In "Jeftha" läßt der Dichter am Schluß, nachdem Jeftha seine Tochter bühnenfähig ist, beim Lesen einen solchen Genuß und Eindruck bewirken, daß In „Jeftha" läßt der Dichter am Schluß, nachdem Jeftha seine Tochter <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0008" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135589"/> <p xml:id="ID_11" prev="#ID_10"> bühnenfähig ist, beim Lesen einen solchen Genuß und Eindruck bewirken, daß<lb/> man den Mangel der Bühnenfähigkeit wenig empfindet, Charakterschilderung<lb/> und psychologische Entwickelung der Handlung ersetzen oft die fehlende plastische<lb/> Darstellung. Aber auch diese fehlen den Vorbei'schen Dramen. Sein eigner<lb/> religiöser Charakter, sein geistiges und kirchliches Leben schaut aus seinen Ge¬<lb/> dichten hervor. Vorbei wandte sich mit Widerwillen von den religiösen<lb/> Zänkereien seiner protestantischen Zeitgenossen ab, suchte und fand Ruhe in<lb/> der katholischen Kirche. Nicht durch Kampf kam er zum Frieden, zur Seelen¬<lb/> ruhe, zur eignen selbständigen Ueberzeugung: der innere Zwiespalt des nach<lb/> Wahrheit suchenden Menschen war ihm unbekannt; die Weisheit der Menschen,<lb/> ihr Suchen und Denken waren ihm Narrheit gegenüber der offenbarten gött¬<lb/> lichen Weisheit. Bei dem Gezänk der Protestanten, der Arminianer mit den<lb/> Gomaristen, den verschiedenen Richtungen in der Secte der Monnoniten, zu<lb/> welcher Boudet gehörte, flüchtete er sich unter den Schirm der Kirche, die<lb/> keinen Streit der Meinungen kennt , die keinen Zweifel erlaubt, welche ihre<lb/> Autorität der Freiheit gegenüberstellt. Die Macht Gottes, sein unerforschlicher<lb/> Rathschluß, dem sich der Mensch willenlos fügen soll, ist der Gegenstand der<lb/> Poesie Vorbei's. Darum entwickelt sich die Handlung in Vorbei's Dramen<lb/> nicht nach innern Gesetzen, nach menschlich-ethischen Beweggründen, sondern<lb/> nach dem unbegreiflichen, willkürlichen Rathschluß Gottes, eines echten Acus<lb/> ex ins-odivg,. Vorbei's Helden handeln nicht wie Menschen, sondern wie Au¬<lb/> tomaten, die von einer ungesehenen und unbekannten Kraft in Bewegung<lb/> gesetzt werden. So ruft in Gysbrecht van Amstel der Held Gysvrecht im<lb/> verzweifelten Kampf gegen die anstürmenden Feinde: „Auf, Männer, zu den<lb/> Waffen! Es ist der jüngste Tag, und mit diesem Haus zu Ende. Noch soll<lb/> eZ nicht ohne Rache zu Grund gehen; es muß eine große Zahl der Ihrigen<lb/> mit uns zum Himmel fahren." Und bald darauf, nachdem ihm der Engel<lb/> Raphael erschienen ist, der ihm befiehlt zu fliehen: „Nun beuge ich mich vor<lb/> Gott!" Der Held, der in hochpathetischen, langen Reden fortwährend seinen<lb/> Kampfesmuth verkündet und dann auf den Befehl eines Engels, ohne die<lb/> geringste Widerrede , entflieht, mag ein frommer Mann nach dem Geschmack<lb/> der Kirche sein, unser Herz kann sich aber nicht im Geringsten für ihn<lb/> erwärmen.</p><lb/> <p xml:id="ID_12" next="#ID_13"> In „Jeftha" läßt der Dichter am Schluß, nachdem Jeftha seine Tochter<lb/> geopfert hat, sagen: „Der Himmel konnte diesen Todesstreich verhindern,<lb/> wenn er wollte; aber er wollte, daß sich Jeder an Jeftha spiegeln sollte."<lb/> Auch die Tochter selbst verräth kein menschlich-natürliches Gefühl, als sie ihr<lb/> schreckliches Loos aus dem Munde ihres Vaters vernommen hat. Sie ant¬<lb/> wortet: „Deine Unschuld wird in allen Staaten und Jahrhunderten verkün¬<lb/> det werden. Kein Kindeshaß trieb Dich zu dieser That." Darauf folgen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0008]
bühnenfähig ist, beim Lesen einen solchen Genuß und Eindruck bewirken, daß
man den Mangel der Bühnenfähigkeit wenig empfindet, Charakterschilderung
und psychologische Entwickelung der Handlung ersetzen oft die fehlende plastische
Darstellung. Aber auch diese fehlen den Vorbei'schen Dramen. Sein eigner
religiöser Charakter, sein geistiges und kirchliches Leben schaut aus seinen Ge¬
dichten hervor. Vorbei wandte sich mit Widerwillen von den religiösen
Zänkereien seiner protestantischen Zeitgenossen ab, suchte und fand Ruhe in
der katholischen Kirche. Nicht durch Kampf kam er zum Frieden, zur Seelen¬
ruhe, zur eignen selbständigen Ueberzeugung: der innere Zwiespalt des nach
Wahrheit suchenden Menschen war ihm unbekannt; die Weisheit der Menschen,
ihr Suchen und Denken waren ihm Narrheit gegenüber der offenbarten gött¬
lichen Weisheit. Bei dem Gezänk der Protestanten, der Arminianer mit den
Gomaristen, den verschiedenen Richtungen in der Secte der Monnoniten, zu
welcher Boudet gehörte, flüchtete er sich unter den Schirm der Kirche, die
keinen Streit der Meinungen kennt , die keinen Zweifel erlaubt, welche ihre
Autorität der Freiheit gegenüberstellt. Die Macht Gottes, sein unerforschlicher
Rathschluß, dem sich der Mensch willenlos fügen soll, ist der Gegenstand der
Poesie Vorbei's. Darum entwickelt sich die Handlung in Vorbei's Dramen
nicht nach innern Gesetzen, nach menschlich-ethischen Beweggründen, sondern
nach dem unbegreiflichen, willkürlichen Rathschluß Gottes, eines echten Acus
ex ins-odivg,. Vorbei's Helden handeln nicht wie Menschen, sondern wie Au¬
tomaten, die von einer ungesehenen und unbekannten Kraft in Bewegung
gesetzt werden. So ruft in Gysbrecht van Amstel der Held Gysvrecht im
verzweifelten Kampf gegen die anstürmenden Feinde: „Auf, Männer, zu den
Waffen! Es ist der jüngste Tag, und mit diesem Haus zu Ende. Noch soll
eZ nicht ohne Rache zu Grund gehen; es muß eine große Zahl der Ihrigen
mit uns zum Himmel fahren." Und bald darauf, nachdem ihm der Engel
Raphael erschienen ist, der ihm befiehlt zu fliehen: „Nun beuge ich mich vor
Gott!" Der Held, der in hochpathetischen, langen Reden fortwährend seinen
Kampfesmuth verkündet und dann auf den Befehl eines Engels, ohne die
geringste Widerrede , entflieht, mag ein frommer Mann nach dem Geschmack
der Kirche sein, unser Herz kann sich aber nicht im Geringsten für ihn
erwärmen.
In „Jeftha" läßt der Dichter am Schluß, nachdem Jeftha seine Tochter
geopfert hat, sagen: „Der Himmel konnte diesen Todesstreich verhindern,
wenn er wollte; aber er wollte, daß sich Jeder an Jeftha spiegeln sollte."
Auch die Tochter selbst verräth kein menschlich-natürliches Gefühl, als sie ihr
schreckliches Loos aus dem Munde ihres Vaters vernommen hat. Sie ant¬
wortet: „Deine Unschuld wird in allen Staaten und Jahrhunderten verkün¬
det werden. Kein Kindeshaß trieb Dich zu dieser That." Darauf folgen
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