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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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abgeschnitten werden. Versieht man es und redet man ein einziges Wort
dabei, so ist man verloren. So sah einst ein Mann in Mössingen. als er
eben im Begriff war, die Wurzel einer weißen Wegwart zu schneiden, einen
Mühlstein über seinem Kopfe schweben, der sich fortwährend umdrehte. Da
entsetzte er sich so sehr, daß er ohne die Wurzel mitzunehmen davon rannte.
Hätte er in seiner Angst aufgeschrieen, so würde der Stein herabgefallen sein
und ihn zerdrückt haben.

Das vornehmste unter allen Zaubermitteln aus dem Pflanzenreiche endlich
ist der Farnsamen oder, wie man in Schwaben sagt, der Faarsamen.
Welcher Pflanze er angehört und wie er aussieht, ist nicht klar. Sicher ist
nur, daß er eine Menge wunderbarer Eigenschaften hat, daß er in Nord¬
deutschland unsichtbar macht, in Tirol zum Heben der Schätze gebraucht wird,
auch, zum Gelde gelegt, dieses nie abnehmen läßt, in Schwaben seinem
Besitzer eine solche Kraft verleiht, daß derselbe täglich so viel arbeiten kann,
wie zwanzig oder dreißig Andere, endlich daß er nur in gewissen Nächten des
Jahres, in Westphalen, Thüringen und Tirol in der Johannisnacht, in
Schwaben in der Christnacht, zu gewinnen ist.

In Westphalen sagt man, der Faarsamen ist schwer zu finden; denn er
reift nur in der Nacht auf Johanni von zwölf bis ein Uhr, und dann fällt
er sogleich ab und ist verschwunden. Im nördlichen Franken herrscht dieselbe
Meinung, Dort aber ging es einem Bauer in Berta im Merrathale sonder¬
bar damit. Er suchte in der Johannisnacht ein verloren gegangenes Stück
Vieh, und als er dabei über eine Wiese kam, wo gerade Faarsamen reif ge¬
worden war, fiel ihm etwas davon in die Schuhe. Als er nun nach Hause
zurückkehrte, wunderte er sich, daß seine Hausgenossen ihn gar nicht zu be¬
merken schienen. Da sagte er: "Das Kalb habe ich nicht gefunden." Alle,
die in der Stube waren, erschracken; denn sie hörten wohl seine Worte,
sahen ihn aber nicht. Da rief ihn seine Frau beim Namen; denn sie dachte,
er habe sich versteckt. Er aber trat mitten in die Stube und sagte: "Was
rufst Du denn, ich stehe ja hier vor Dir!" Da wurde der Schreck der Leute
noch größer; denn man hatte ihn gehen hören, aber sah ihn noch immer
nicht. Jetzt merkte er, wie die Sache stand, und zugleich fiel ihm ein, er
möchte wohl Faarsamen in den Schuhen haben; denn es drückte ihn, als ob
Sandkörnchen unter seinen Füßen lägen. So zog er denn die Schuhe aus
und klopfte sie aus, und siehe da, jetzt war er Allen wieder sichtbar wie
vorher.

In Tirol erzählt man, daß die Faaren in der Johannisnacht blühen
und in der Geisterstunde ihren Samen abwerfen. Will man diesen erhalten,
so muß man Tücher oder Papierbogen um den Stengel hinbreiten. Noch
besser eignet sich dazu ein Kelchtuch aus der Kirche. Während der Nacht


abgeschnitten werden. Versieht man es und redet man ein einziges Wort
dabei, so ist man verloren. So sah einst ein Mann in Mössingen. als er
eben im Begriff war, die Wurzel einer weißen Wegwart zu schneiden, einen
Mühlstein über seinem Kopfe schweben, der sich fortwährend umdrehte. Da
entsetzte er sich so sehr, daß er ohne die Wurzel mitzunehmen davon rannte.
Hätte er in seiner Angst aufgeschrieen, so würde der Stein herabgefallen sein
und ihn zerdrückt haben.

Das vornehmste unter allen Zaubermitteln aus dem Pflanzenreiche endlich
ist der Farnsamen oder, wie man in Schwaben sagt, der Faarsamen.
Welcher Pflanze er angehört und wie er aussieht, ist nicht klar. Sicher ist
nur, daß er eine Menge wunderbarer Eigenschaften hat, daß er in Nord¬
deutschland unsichtbar macht, in Tirol zum Heben der Schätze gebraucht wird,
auch, zum Gelde gelegt, dieses nie abnehmen läßt, in Schwaben seinem
Besitzer eine solche Kraft verleiht, daß derselbe täglich so viel arbeiten kann,
wie zwanzig oder dreißig Andere, endlich daß er nur in gewissen Nächten des
Jahres, in Westphalen, Thüringen und Tirol in der Johannisnacht, in
Schwaben in der Christnacht, zu gewinnen ist.

In Westphalen sagt man, der Faarsamen ist schwer zu finden; denn er
reift nur in der Nacht auf Johanni von zwölf bis ein Uhr, und dann fällt
er sogleich ab und ist verschwunden. Im nördlichen Franken herrscht dieselbe
Meinung, Dort aber ging es einem Bauer in Berta im Merrathale sonder¬
bar damit. Er suchte in der Johannisnacht ein verloren gegangenes Stück
Vieh, und als er dabei über eine Wiese kam, wo gerade Faarsamen reif ge¬
worden war, fiel ihm etwas davon in die Schuhe. Als er nun nach Hause
zurückkehrte, wunderte er sich, daß seine Hausgenossen ihn gar nicht zu be¬
merken schienen. Da sagte er: „Das Kalb habe ich nicht gefunden." Alle,
die in der Stube waren, erschracken; denn sie hörten wohl seine Worte,
sahen ihn aber nicht. Da rief ihn seine Frau beim Namen; denn sie dachte,
er habe sich versteckt. Er aber trat mitten in die Stube und sagte: „Was
rufst Du denn, ich stehe ja hier vor Dir!" Da wurde der Schreck der Leute
noch größer; denn man hatte ihn gehen hören, aber sah ihn noch immer
nicht. Jetzt merkte er, wie die Sache stand, und zugleich fiel ihm ein, er
möchte wohl Faarsamen in den Schuhen haben; denn es drückte ihn, als ob
Sandkörnchen unter seinen Füßen lägen. So zog er denn die Schuhe aus
und klopfte sie aus, und siehe da, jetzt war er Allen wieder sichtbar wie
vorher.

In Tirol erzählt man, daß die Faaren in der Johannisnacht blühen
und in der Geisterstunde ihren Samen abwerfen. Will man diesen erhalten,
so muß man Tücher oder Papierbogen um den Stengel hinbreiten. Noch
besser eignet sich dazu ein Kelchtuch aus der Kirche. Während der Nacht


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[0496] abgeschnitten werden. Versieht man es und redet man ein einziges Wort dabei, so ist man verloren. So sah einst ein Mann in Mössingen. als er eben im Begriff war, die Wurzel einer weißen Wegwart zu schneiden, einen Mühlstein über seinem Kopfe schweben, der sich fortwährend umdrehte. Da entsetzte er sich so sehr, daß er ohne die Wurzel mitzunehmen davon rannte. Hätte er in seiner Angst aufgeschrieen, so würde der Stein herabgefallen sein und ihn zerdrückt haben. Das vornehmste unter allen Zaubermitteln aus dem Pflanzenreiche endlich ist der Farnsamen oder, wie man in Schwaben sagt, der Faarsamen. Welcher Pflanze er angehört und wie er aussieht, ist nicht klar. Sicher ist nur, daß er eine Menge wunderbarer Eigenschaften hat, daß er in Nord¬ deutschland unsichtbar macht, in Tirol zum Heben der Schätze gebraucht wird, auch, zum Gelde gelegt, dieses nie abnehmen läßt, in Schwaben seinem Besitzer eine solche Kraft verleiht, daß derselbe täglich so viel arbeiten kann, wie zwanzig oder dreißig Andere, endlich daß er nur in gewissen Nächten des Jahres, in Westphalen, Thüringen und Tirol in der Johannisnacht, in Schwaben in der Christnacht, zu gewinnen ist. In Westphalen sagt man, der Faarsamen ist schwer zu finden; denn er reift nur in der Nacht auf Johanni von zwölf bis ein Uhr, und dann fällt er sogleich ab und ist verschwunden. Im nördlichen Franken herrscht dieselbe Meinung, Dort aber ging es einem Bauer in Berta im Merrathale sonder¬ bar damit. Er suchte in der Johannisnacht ein verloren gegangenes Stück Vieh, und als er dabei über eine Wiese kam, wo gerade Faarsamen reif ge¬ worden war, fiel ihm etwas davon in die Schuhe. Als er nun nach Hause zurückkehrte, wunderte er sich, daß seine Hausgenossen ihn gar nicht zu be¬ merken schienen. Da sagte er: „Das Kalb habe ich nicht gefunden." Alle, die in der Stube waren, erschracken; denn sie hörten wohl seine Worte, sahen ihn aber nicht. Da rief ihn seine Frau beim Namen; denn sie dachte, er habe sich versteckt. Er aber trat mitten in die Stube und sagte: „Was rufst Du denn, ich stehe ja hier vor Dir!" Da wurde der Schreck der Leute noch größer; denn man hatte ihn gehen hören, aber sah ihn noch immer nicht. Jetzt merkte er, wie die Sache stand, und zugleich fiel ihm ein, er möchte wohl Faarsamen in den Schuhen haben; denn es drückte ihn, als ob Sandkörnchen unter seinen Füßen lägen. So zog er denn die Schuhe aus und klopfte sie aus, und siehe da, jetzt war er Allen wieder sichtbar wie vorher. In Tirol erzählt man, daß die Faaren in der Johannisnacht blühen und in der Geisterstunde ihren Samen abwerfen. Will man diesen erhalten, so muß man Tücher oder Papierbogen um den Stengel hinbreiten. Noch besser eignet sich dazu ein Kelchtuch aus der Kirche. Während der Nacht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/496>, abgerufen am 27.07.2024.