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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Zeit, wo die Pflanzenwelt ihre höchste Entwickelung erreicht, und so gruppirt
sich ein großer Theil des Aberglaubens, der sich auf Kräuter, Wurzeln und
Blumen bezieht, um diese Stunden des Jahres. Kluge Bauersleute, Schäfer
und Jäger, Kräuterweiber und andere Frauen, die "mehr als Brot essen
können" . suchen und finden in ihnen, was in der Volksmediein für gesund
und nach anderer Wissenschaft für Glück bringend, übermenschliche Kraft
verleihend, Hindernisse magisch überwindend, unsichtbar machend u. d. gilt.
Allerhand Zauber, zu dem Pflanzen gebraucht werden, allerhand Versuche,
mit Hülse von solchen die Zukunft zu errathen, werden in ihnen vorgenom¬
men. Bäume und Sträucher haben und entfalten in ihnen ihre höchste Heil¬
kraft. So aber ladet der heutige Tag zu einer Betrachtung alles dessen ein,
was überhaupt in das Gebiet des deutschen Volksglaubens von den Pflanzen
gehört, und eine solche Betrachtung wollen wir jetzt anstellen. Wir verfahren
dabei ohne System, versetzen uns einfach auf einen Spaziergang durch Wald
und Feld und betrachten die Pflanzen, um die es sich hier handelt, wie sie
uns zufällig vor die Augen kommen. Der Volksglaube dieser und jener
Gegend ist dabei unser Begleiter und Berather.

Sehr alt und sehr verbreitet ist die Meinung, daß Johanniskraut
(K^perioum pertor^wen) in der heutigen Nacht gepflückt gegen alle Werke
des Teufels und der Hexen schütze. In Tirol bewirkt es, in die Schuhe ge¬
legt, daß man auch bei weiten Gängen nicht müde wird. In der Mark hat
es am Johannistage Blutstropfen an seiner Wurzel, mit denen man seine
Flinte inwendig bestreichen muß, da sie dann bet jedem Schusse trifft. Eine
andere Pflanze, die deutsch denselben Namen führt, lateinisch dagegen seäum
toleMeum heißt, hat gleiche Kraft, wendet aber zugleich den Blitz ab. Im
westphälischen Volmethal erforscht man mit ihr auf verschiedene Weise die
Zukunft. Wer hier wissen will, ob er ein Mädchen, das er gern möchte, be¬
kommen wird, steckt am Johannistage zwei solche Pflanzen nebeneinander in
die Erde, und wachsen sie dann mit den Kronen gegeneinander, so wird er
die Gewünschte einmal seine Frau nennen, weichen sie von einander, so hat
er nichts zu hoffen. Befestigt man am Johannistag eine solche Pflanze an
die Wand, und läßt man dann die Familienglieder die Zweige anrühren, so
erfährt man, wenn sie darauf in die Höhe wachsen, daß im kommenden Jahre
Alles im Hause gesund bleiben, wenn sie sich senken, daß es einen Sterbefall
geben wird. Ein ähnlicher Aberglaube herrscht in englischen Dörfern. Hier
pflanzen die Mädchen am Johannistage Knabenkraut in Lehm auf eine Schie¬
ferplatte, was man "einen Mittsommermann machen" nennt. Neigt sich der
Stengel am nächsten Morgen zur Rechten, so weiß das Mädchen, daß ihr
Schatz ihr treu bleiben wird, neigt er sich nach links, so ist das Gegentheil
zu befürchten. In verschiedenen Gegenden Deutschlands und Englands sucht


Zeit, wo die Pflanzenwelt ihre höchste Entwickelung erreicht, und so gruppirt
sich ein großer Theil des Aberglaubens, der sich auf Kräuter, Wurzeln und
Blumen bezieht, um diese Stunden des Jahres. Kluge Bauersleute, Schäfer
und Jäger, Kräuterweiber und andere Frauen, die „mehr als Brot essen
können" . suchen und finden in ihnen, was in der Volksmediein für gesund
und nach anderer Wissenschaft für Glück bringend, übermenschliche Kraft
verleihend, Hindernisse magisch überwindend, unsichtbar machend u. d. gilt.
Allerhand Zauber, zu dem Pflanzen gebraucht werden, allerhand Versuche,
mit Hülse von solchen die Zukunft zu errathen, werden in ihnen vorgenom¬
men. Bäume und Sträucher haben und entfalten in ihnen ihre höchste Heil¬
kraft. So aber ladet der heutige Tag zu einer Betrachtung alles dessen ein,
was überhaupt in das Gebiet des deutschen Volksglaubens von den Pflanzen
gehört, und eine solche Betrachtung wollen wir jetzt anstellen. Wir verfahren
dabei ohne System, versetzen uns einfach auf einen Spaziergang durch Wald
und Feld und betrachten die Pflanzen, um die es sich hier handelt, wie sie
uns zufällig vor die Augen kommen. Der Volksglaube dieser und jener
Gegend ist dabei unser Begleiter und Berather.

Sehr alt und sehr verbreitet ist die Meinung, daß Johanniskraut
(K^perioum pertor^wen) in der heutigen Nacht gepflückt gegen alle Werke
des Teufels und der Hexen schütze. In Tirol bewirkt es, in die Schuhe ge¬
legt, daß man auch bei weiten Gängen nicht müde wird. In der Mark hat
es am Johannistage Blutstropfen an seiner Wurzel, mit denen man seine
Flinte inwendig bestreichen muß, da sie dann bet jedem Schusse trifft. Eine
andere Pflanze, die deutsch denselben Namen führt, lateinisch dagegen seäum
toleMeum heißt, hat gleiche Kraft, wendet aber zugleich den Blitz ab. Im
westphälischen Volmethal erforscht man mit ihr auf verschiedene Weise die
Zukunft. Wer hier wissen will, ob er ein Mädchen, das er gern möchte, be¬
kommen wird, steckt am Johannistage zwei solche Pflanzen nebeneinander in
die Erde, und wachsen sie dann mit den Kronen gegeneinander, so wird er
die Gewünschte einmal seine Frau nennen, weichen sie von einander, so hat
er nichts zu hoffen. Befestigt man am Johannistag eine solche Pflanze an
die Wand, und läßt man dann die Familienglieder die Zweige anrühren, so
erfährt man, wenn sie darauf in die Höhe wachsen, daß im kommenden Jahre
Alles im Hause gesund bleiben, wenn sie sich senken, daß es einen Sterbefall
geben wird. Ein ähnlicher Aberglaube herrscht in englischen Dörfern. Hier
pflanzen die Mädchen am Johannistage Knabenkraut in Lehm auf eine Schie¬
ferplatte, was man „einen Mittsommermann machen" nennt. Neigt sich der
Stengel am nächsten Morgen zur Rechten, so weiß das Mädchen, daß ihr
Schatz ihr treu bleiben wird, neigt er sich nach links, so ist das Gegentheil
zu befürchten. In verschiedenen Gegenden Deutschlands und Englands sucht


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[0486] Zeit, wo die Pflanzenwelt ihre höchste Entwickelung erreicht, und so gruppirt sich ein großer Theil des Aberglaubens, der sich auf Kräuter, Wurzeln und Blumen bezieht, um diese Stunden des Jahres. Kluge Bauersleute, Schäfer und Jäger, Kräuterweiber und andere Frauen, die „mehr als Brot essen können" . suchen und finden in ihnen, was in der Volksmediein für gesund und nach anderer Wissenschaft für Glück bringend, übermenschliche Kraft verleihend, Hindernisse magisch überwindend, unsichtbar machend u. d. gilt. Allerhand Zauber, zu dem Pflanzen gebraucht werden, allerhand Versuche, mit Hülse von solchen die Zukunft zu errathen, werden in ihnen vorgenom¬ men. Bäume und Sträucher haben und entfalten in ihnen ihre höchste Heil¬ kraft. So aber ladet der heutige Tag zu einer Betrachtung alles dessen ein, was überhaupt in das Gebiet des deutschen Volksglaubens von den Pflanzen gehört, und eine solche Betrachtung wollen wir jetzt anstellen. Wir verfahren dabei ohne System, versetzen uns einfach auf einen Spaziergang durch Wald und Feld und betrachten die Pflanzen, um die es sich hier handelt, wie sie uns zufällig vor die Augen kommen. Der Volksglaube dieser und jener Gegend ist dabei unser Begleiter und Berather. Sehr alt und sehr verbreitet ist die Meinung, daß Johanniskraut (K^perioum pertor^wen) in der heutigen Nacht gepflückt gegen alle Werke des Teufels und der Hexen schütze. In Tirol bewirkt es, in die Schuhe ge¬ legt, daß man auch bei weiten Gängen nicht müde wird. In der Mark hat es am Johannistage Blutstropfen an seiner Wurzel, mit denen man seine Flinte inwendig bestreichen muß, da sie dann bet jedem Schusse trifft. Eine andere Pflanze, die deutsch denselben Namen führt, lateinisch dagegen seäum toleMeum heißt, hat gleiche Kraft, wendet aber zugleich den Blitz ab. Im westphälischen Volmethal erforscht man mit ihr auf verschiedene Weise die Zukunft. Wer hier wissen will, ob er ein Mädchen, das er gern möchte, be¬ kommen wird, steckt am Johannistage zwei solche Pflanzen nebeneinander in die Erde, und wachsen sie dann mit den Kronen gegeneinander, so wird er die Gewünschte einmal seine Frau nennen, weichen sie von einander, so hat er nichts zu hoffen. Befestigt man am Johannistag eine solche Pflanze an die Wand, und läßt man dann die Familienglieder die Zweige anrühren, so erfährt man, wenn sie darauf in die Höhe wachsen, daß im kommenden Jahre Alles im Hause gesund bleiben, wenn sie sich senken, daß es einen Sterbefall geben wird. Ein ähnlicher Aberglaube herrscht in englischen Dörfern. Hier pflanzen die Mädchen am Johannistage Knabenkraut in Lehm auf eine Schie¬ ferplatte, was man „einen Mittsommermann machen" nennt. Neigt sich der Stengel am nächsten Morgen zur Rechten, so weiß das Mädchen, daß ihr Schatz ihr treu bleiben wird, neigt er sich nach links, so ist das Gegentheil zu befürchten. In verschiedenen Gegenden Deutschlands und Englands sucht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/486>, abgerufen am 27.07.2024.