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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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niste selbst, als ihrer Rückwirkung aus einzelne beschränkte Kreise zu geben.
Doch können sie vielleicht ,'auf einiges Interesse rechnen, weil sie eben in den
Beginn der gewaltigen Erschütterung, aus der die Neugestaltung Deutsch,
lands hervorging, und an Orte versetzen, an denen sie ganz nachdrücklich und
überwältigend zur Erscheinung kam.

Den Sommer von 1866 brachte ich zum Theil in Göttingen zu, einer
Stadt, von der Niemand behaupten wird, daß sie irgendwelche centrale Lage
in politischer Beziehung besitze. Aber die dumpfe Schwüle, die wie vor dem
Ausbruche eines gewaltigen Unwetters über ganz Deutschland lastete, machte
sich hier nicht weniger geltend, als irgendwo sonst. Jeder, der überhaupt
politisch dachte und ein Herz hatte fürs Vaterland, fühlte instinctiv, daß der
Krieg unaufhaltsam näher rücke, und keiner konnte doch der blutigen Ent¬
scheidung mit freiem Herzen entgegensehen. Denn auch wer den Sieg Preußens
wünschte, fühlte seine Sympathie beengt durch den Blick auf den in voller
Schärfe bestehenden "Conflikt" und Niemand ahnte die Größe des Herrn
von Btsmarck -- in allen liberalen Blättern erschien er ja nur als der
Junker -- Niemand auch die überwältigende Macht der neuen preußischen
Heeresorganisation. Ich erinnere mich deutlich, daß, als einmal in einer
größeren Gesellschaft die Rede auf die Chancen eines Krieges zwischen Preußen
und Oesterreich kam, die anwesenden Preußen allerdings auf den Sieg
hofften, aber von Moltke doch nur sprachen als von einem "sehr tüchtigen
Offizier", ohne Ahnung von der genialen Begabung des großen Strategen.
Andererseits standen ihre Sympathien fast durchaus auf Seite des Abgeord¬
netenhauses, und der eine oder andere war geneigt, an das Aergste, an eine
Revolution gegen die verhaßte Regierung zu glauben. Es lastete daher zwar
unsägliche Beklemmung auf allen Gemüthern als -- wenn ich nicht irre am
7. Juni -- sich die Nachricht verbreitete, in Berlin sei eine Erhebung erfolgt,
aber daran zu zweifeln, dachten wenige, so wenig sich auch irgend etwas Zu¬
verlässiges in Erfahrung bringen ließ. Auch die Stimmung der Armee hielt
man in liberalen Kreisen keineswegs sür sicher; es wurde viel von dem "tra¬
ditionellen Gegensatze" zwischen Linie und Landwehr geredet. Dazu kamen un¬
bestimmte Nachrichten über die gewaltigen Rüstungen Preußens, die erdrückend
wirken zu müssen schienen; sogar von der "stillen Verzweiflung der Massen"
konnte man sprechen hören. Die jungen Männer meiner Bekanntschaft frei¬
lich, die als Preußen täglich ihrer Etnberufungsordre entgegen sahen, zeigten
sich voll Muth und Entschlossenheit; zum ersten Male trat da dem Nicht-
preußen lebendig und greifbar der Gedanke entgegen, welche gewaltige Sache
es doch sei um die allgemeine Wehrpflicht. Wenn man dann sich fragte, wie
denn die zunächst in der "Machtsphäre" der beiden Großmächte liegenden
Mittelstaaten Hannover und Sachsen sich zu dem Conflicte stellen würden,


niste selbst, als ihrer Rückwirkung aus einzelne beschränkte Kreise zu geben.
Doch können sie vielleicht ,'auf einiges Interesse rechnen, weil sie eben in den
Beginn der gewaltigen Erschütterung, aus der die Neugestaltung Deutsch,
lands hervorging, und an Orte versetzen, an denen sie ganz nachdrücklich und
überwältigend zur Erscheinung kam.

Den Sommer von 1866 brachte ich zum Theil in Göttingen zu, einer
Stadt, von der Niemand behaupten wird, daß sie irgendwelche centrale Lage
in politischer Beziehung besitze. Aber die dumpfe Schwüle, die wie vor dem
Ausbruche eines gewaltigen Unwetters über ganz Deutschland lastete, machte
sich hier nicht weniger geltend, als irgendwo sonst. Jeder, der überhaupt
politisch dachte und ein Herz hatte fürs Vaterland, fühlte instinctiv, daß der
Krieg unaufhaltsam näher rücke, und keiner konnte doch der blutigen Ent¬
scheidung mit freiem Herzen entgegensehen. Denn auch wer den Sieg Preußens
wünschte, fühlte seine Sympathie beengt durch den Blick auf den in voller
Schärfe bestehenden „Conflikt" und Niemand ahnte die Größe des Herrn
von Btsmarck — in allen liberalen Blättern erschien er ja nur als der
Junker — Niemand auch die überwältigende Macht der neuen preußischen
Heeresorganisation. Ich erinnere mich deutlich, daß, als einmal in einer
größeren Gesellschaft die Rede auf die Chancen eines Krieges zwischen Preußen
und Oesterreich kam, die anwesenden Preußen allerdings auf den Sieg
hofften, aber von Moltke doch nur sprachen als von einem „sehr tüchtigen
Offizier", ohne Ahnung von der genialen Begabung des großen Strategen.
Andererseits standen ihre Sympathien fast durchaus auf Seite des Abgeord¬
netenhauses, und der eine oder andere war geneigt, an das Aergste, an eine
Revolution gegen die verhaßte Regierung zu glauben. Es lastete daher zwar
unsägliche Beklemmung auf allen Gemüthern als — wenn ich nicht irre am
7. Juni — sich die Nachricht verbreitete, in Berlin sei eine Erhebung erfolgt,
aber daran zu zweifeln, dachten wenige, so wenig sich auch irgend etwas Zu¬
verlässiges in Erfahrung bringen ließ. Auch die Stimmung der Armee hielt
man in liberalen Kreisen keineswegs sür sicher; es wurde viel von dem „tra¬
ditionellen Gegensatze" zwischen Linie und Landwehr geredet. Dazu kamen un¬
bestimmte Nachrichten über die gewaltigen Rüstungen Preußens, die erdrückend
wirken zu müssen schienen; sogar von der „stillen Verzweiflung der Massen"
konnte man sprechen hören. Die jungen Männer meiner Bekanntschaft frei¬
lich, die als Preußen täglich ihrer Etnberufungsordre entgegen sahen, zeigten
sich voll Muth und Entschlossenheit; zum ersten Male trat da dem Nicht-
preußen lebendig und greifbar der Gedanke entgegen, welche gewaltige Sache
es doch sei um die allgemeine Wehrpflicht. Wenn man dann sich fragte, wie
denn die zunächst in der „Machtsphäre" der beiden Großmächte liegenden
Mittelstaaten Hannover und Sachsen sich zu dem Conflicte stellen würden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/476>, abgerufen am 27.11.2024.