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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Sinne wirkt die Einfachheit des Ortes. Kein prunkender Rahmen zieht
unseren Blick von jenem Liebesbilde ab; es ist so schön, daß wir an Sesen-
heim nichts finden, als was jene beiden dort gefunden. Das Interesse wird
nicht getheilt, der Eindruck wird nicht zerstückelt.

In der Kirche ist noch der Stuhl erhalten, wo der junge Straßburger
Studiosus an der Seite seiner Geliebten saß, und eine ziemlich trockene Predigt
des Vaters nicht zu lang fand; auch der kleine Wald auf der Höhe, wo der
Ruheplatz Friederikens war, und wo man hinaussah durch die Lichtung der
Zweige, liegt hier vor uns, all unsere Gedanken werden festgehalten im Bann¬
kreis jener Zeit.

Wir hören ihn in der Laube, wie er "die schöne Melusine" erzählt, wir
hören den lärmenden Kreis von jungen Freunden, die schon beim Frühstück
nicht den Wein gespart und nun ihre tollsten Streiche treiben, wir sehen
Friederike, wie sie durch die blühenden Fluren wandelt. Sie war ja so recht
fürs Freie geschaffen, "die Anmuth ihres Betragens schien mit der bedlümten
Erde und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel
zu wetteifern. Diesen erquicklichen Aether der sie umgab, brachte sie auch
mit nach Hause ..."

Ungehindert durch argwöhnische Blicke, frei von jedem Zwange durch¬
streifte das junge Paar die Gegend nach allen Seiten. "Monatelang beglück¬
ten uns reine ätherische Morgen, wo der Himmel sich in seiner ganzen Pracht
wies, indem er die Erde mit überflüssigem Thau getränkt hatte und damit
dieses Schauspiel nicht zu einfach werde, thürmten sich oft Wolken über die
entfernten Berge, bald in dieser bald in jener Gegend. Sie standen Tage,
ja Wochen lang, ohne den reinen Himmel zu trüben und selbst die vorüber¬
gehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das Grün, das
schon wiederum Sonnenschein glänzte, ehe es noch abtrocknen konnte........
Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust zu dichten, die ich lange
nicht gefühlt hatte, wieder hervor."

Das waren die Tage, die der größte deutsche. Dichter auf dieser Scholle
im süßen Elsaß verlebte und welche Wonne athmet nicht dies Leben! Durch
seine Schilderung, wie durch unser eigenes Empfinden, wenn wir das kleine
Sesenheim da besuchen, hallt gleichsam wie ein Grundton der Satz aus Wahrheit
und Dichtung nach: "Ich war gränzenlos glücklich an Friederikens Seite."--

Ganz andere Bilder aber treten uns nun vor Augen, wenn wir uns
von Straßburg nach Westen wenden. Durch die einsichtsvolle Verständigung
zwischen dem Chef des Departements und der großen Ostbahngesellschaft ward
eme Reihe kleinerer Bahnen begründet, die nur dem lokalen Verkehre dienen.

Eine solche Linie ist es, die uns nach Molsheim führt, in ein kleines
Städtlein, das ehedem den Bischöfen von Straßburg gehörte. Einer von


Sinne wirkt die Einfachheit des Ortes. Kein prunkender Rahmen zieht
unseren Blick von jenem Liebesbilde ab; es ist so schön, daß wir an Sesen-
heim nichts finden, als was jene beiden dort gefunden. Das Interesse wird
nicht getheilt, der Eindruck wird nicht zerstückelt.

In der Kirche ist noch der Stuhl erhalten, wo der junge Straßburger
Studiosus an der Seite seiner Geliebten saß, und eine ziemlich trockene Predigt
des Vaters nicht zu lang fand; auch der kleine Wald auf der Höhe, wo der
Ruheplatz Friederikens war, und wo man hinaussah durch die Lichtung der
Zweige, liegt hier vor uns, all unsere Gedanken werden festgehalten im Bann¬
kreis jener Zeit.

Wir hören ihn in der Laube, wie er „die schöne Melusine" erzählt, wir
hören den lärmenden Kreis von jungen Freunden, die schon beim Frühstück
nicht den Wein gespart und nun ihre tollsten Streiche treiben, wir sehen
Friederike, wie sie durch die blühenden Fluren wandelt. Sie war ja so recht
fürs Freie geschaffen, „die Anmuth ihres Betragens schien mit der bedlümten
Erde und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel
zu wetteifern. Diesen erquicklichen Aether der sie umgab, brachte sie auch
mit nach Hause ..."

Ungehindert durch argwöhnische Blicke, frei von jedem Zwange durch¬
streifte das junge Paar die Gegend nach allen Seiten. „Monatelang beglück¬
ten uns reine ätherische Morgen, wo der Himmel sich in seiner ganzen Pracht
wies, indem er die Erde mit überflüssigem Thau getränkt hatte und damit
dieses Schauspiel nicht zu einfach werde, thürmten sich oft Wolken über die
entfernten Berge, bald in dieser bald in jener Gegend. Sie standen Tage,
ja Wochen lang, ohne den reinen Himmel zu trüben und selbst die vorüber¬
gehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das Grün, das
schon wiederum Sonnenschein glänzte, ehe es noch abtrocknen konnte........
Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust zu dichten, die ich lange
nicht gefühlt hatte, wieder hervor."

Das waren die Tage, die der größte deutsche. Dichter auf dieser Scholle
im süßen Elsaß verlebte und welche Wonne athmet nicht dies Leben! Durch
seine Schilderung, wie durch unser eigenes Empfinden, wenn wir das kleine
Sesenheim da besuchen, hallt gleichsam wie ein Grundton der Satz aus Wahrheit
und Dichtung nach: „Ich war gränzenlos glücklich an Friederikens Seite."--

Ganz andere Bilder aber treten uns nun vor Augen, wenn wir uns
von Straßburg nach Westen wenden. Durch die einsichtsvolle Verständigung
zwischen dem Chef des Departements und der großen Ostbahngesellschaft ward
eme Reihe kleinerer Bahnen begründet, die nur dem lokalen Verkehre dienen.

Eine solche Linie ist es, die uns nach Molsheim führt, in ein kleines
Städtlein, das ehedem den Bischöfen von Straßburg gehörte. Einer von


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[0431] Sinne wirkt die Einfachheit des Ortes. Kein prunkender Rahmen zieht unseren Blick von jenem Liebesbilde ab; es ist so schön, daß wir an Sesen- heim nichts finden, als was jene beiden dort gefunden. Das Interesse wird nicht getheilt, der Eindruck wird nicht zerstückelt. In der Kirche ist noch der Stuhl erhalten, wo der junge Straßburger Studiosus an der Seite seiner Geliebten saß, und eine ziemlich trockene Predigt des Vaters nicht zu lang fand; auch der kleine Wald auf der Höhe, wo der Ruheplatz Friederikens war, und wo man hinaussah durch die Lichtung der Zweige, liegt hier vor uns, all unsere Gedanken werden festgehalten im Bann¬ kreis jener Zeit. Wir hören ihn in der Laube, wie er „die schöne Melusine" erzählt, wir hören den lärmenden Kreis von jungen Freunden, die schon beim Frühstück nicht den Wein gespart und nun ihre tollsten Streiche treiben, wir sehen Friederike, wie sie durch die blühenden Fluren wandelt. Sie war ja so recht fürs Freie geschaffen, „die Anmuth ihres Betragens schien mit der bedlümten Erde und die unverwüstliche Heiterkeit ihres Antlitzes mit dem blauen Himmel zu wetteifern. Diesen erquicklichen Aether der sie umgab, brachte sie auch mit nach Hause ..." Ungehindert durch argwöhnische Blicke, frei von jedem Zwange durch¬ streifte das junge Paar die Gegend nach allen Seiten. „Monatelang beglück¬ ten uns reine ätherische Morgen, wo der Himmel sich in seiner ganzen Pracht wies, indem er die Erde mit überflüssigem Thau getränkt hatte und damit dieses Schauspiel nicht zu einfach werde, thürmten sich oft Wolken über die entfernten Berge, bald in dieser bald in jener Gegend. Sie standen Tage, ja Wochen lang, ohne den reinen Himmel zu trüben und selbst die vorüber¬ gehenden Gewitter erquickten das Land und verherrlichten das Grün, das schon wiederum Sonnenschein glänzte, ehe es noch abtrocknen konnte........ Unter diesen Umgebungen trat unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder hervor." Das waren die Tage, die der größte deutsche. Dichter auf dieser Scholle im süßen Elsaß verlebte und welche Wonne athmet nicht dies Leben! Durch seine Schilderung, wie durch unser eigenes Empfinden, wenn wir das kleine Sesenheim da besuchen, hallt gleichsam wie ein Grundton der Satz aus Wahrheit und Dichtung nach: „Ich war gränzenlos glücklich an Friederikens Seite."-- Ganz andere Bilder aber treten uns nun vor Augen, wenn wir uns von Straßburg nach Westen wenden. Durch die einsichtsvolle Verständigung zwischen dem Chef des Departements und der großen Ostbahngesellschaft ward eme Reihe kleinerer Bahnen begründet, die nur dem lokalen Verkehre dienen. Eine solche Linie ist es, die uns nach Molsheim führt, in ein kleines Städtlein, das ehedem den Bischöfen von Straßburg gehörte. Einer von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/431>, abgerufen am 27.11.2024.