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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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ob jemand uns hören könne. Dann zog er eine Perrücke ab und ersuchte
mich, indem er mir ein Mikroskop einhändigte, seine Kopfhaut zu prüfen
und ihm zu sagen, ob er noch irgend welche Hoffnung hätte." . . .

.Ich weiß," so schließt dieser Abschnitt, "ein kahlköpfiger Pitman ist
weniger bezaubernd als ein Pitman mit Haaren, aber wenn ich die Wahl
gehabt hätte zwischen der Erduldung dieses Elends und einem Pitman ohne
Augenwimpern und ohne soviel Haare an sich, daß man einen Pinsel daraus
machen könnte, so würde ich mich für den letzteren entscheiden. Aber ich
werde, begebe sich, was da wolle, kaum wieder einmal ein Zeugniß von einer
Heilung ausstellen. Sollte ich meinen Erzeuger von Patent-Medicin eine
Mumie, die in dem Jahre gestorben wäre, wo Joseph nach Aegypten ver¬
kauft wurde, hernehmen und sie so lange mit seiner Salbe bearbeiten sehen,
bis sie ihre Lumpen von sich würfe und die Polka Mazurka tanzte, während
sie sich die Melodie dazu pfiffe, so wollte ich lieber auf dem Scheiterhaufen
sterben, als das Wunder auf dem Papier anerkennen. Pitman's Haar hat
mir ein Licht aufgesteckt über die Bedeutung von Zeugnissen in medicinischen
Angelegenheiten."




Unter aus dem Mes.
Ausflüge von Straßburg.

Die nächste Umgebung von Straßburg ist nicht bestechend für den, der
große Formen oder blendende Effekte sucht, allein sie wird Jeden fesseln, der
auch den stille wirkenden und anspruchslosen Zauber der Natur belauscht.

Da ist der Rhein mit seinen grünbewachsenen Inseln, weithin duftige
Wiesen wo die Feldblumen nicken, goldenes Kornfeld und sonntägliches Ge¬
läut, wenn ein Thurm aus den Bäumen ragt. Auf dem schmalen Fußsteig,
der durch die Felder führt, begegnen uns Gestalten in der schmucken Landes¬
tracht, wir empfangen und erwidern ihren Gruß und wenn dann das Auge
wieder einsam schweift, dann steigen aus ferner Fläche die dunklen Wälder
empor und über ihnen am westlichen Himmel tiefblaue Berge.

Das ist der Charakter, den die Gegend um Straßburg trägt, sie bietet
kein Bild der Größe, wohl aber ein Stimmungsbild, wie es kaum feiner
empfunden werden kann; ihr Inhalt ist die Idylle, nicht eine große That.

Und jene Stimmung der wir hier Ausdruck geben, sie ward auch von
Besseren getheilt und vorempfunden; diese Stimmung trug den jungen Goethe


Grenzboten II. 1876. 54

ob jemand uns hören könne. Dann zog er eine Perrücke ab und ersuchte
mich, indem er mir ein Mikroskop einhändigte, seine Kopfhaut zu prüfen
und ihm zu sagen, ob er noch irgend welche Hoffnung hätte." . . .

.Ich weiß," so schließt dieser Abschnitt, „ein kahlköpfiger Pitman ist
weniger bezaubernd als ein Pitman mit Haaren, aber wenn ich die Wahl
gehabt hätte zwischen der Erduldung dieses Elends und einem Pitman ohne
Augenwimpern und ohne soviel Haare an sich, daß man einen Pinsel daraus
machen könnte, so würde ich mich für den letzteren entscheiden. Aber ich
werde, begebe sich, was da wolle, kaum wieder einmal ein Zeugniß von einer
Heilung ausstellen. Sollte ich meinen Erzeuger von Patent-Medicin eine
Mumie, die in dem Jahre gestorben wäre, wo Joseph nach Aegypten ver¬
kauft wurde, hernehmen und sie so lange mit seiner Salbe bearbeiten sehen,
bis sie ihre Lumpen von sich würfe und die Polka Mazurka tanzte, während
sie sich die Melodie dazu pfiffe, so wollte ich lieber auf dem Scheiterhaufen
sterben, als das Wunder auf dem Papier anerkennen. Pitman's Haar hat
mir ein Licht aufgesteckt über die Bedeutung von Zeugnissen in medicinischen
Angelegenheiten."




Unter aus dem Mes.
Ausflüge von Straßburg.

Die nächste Umgebung von Straßburg ist nicht bestechend für den, der
große Formen oder blendende Effekte sucht, allein sie wird Jeden fesseln, der
auch den stille wirkenden und anspruchslosen Zauber der Natur belauscht.

Da ist der Rhein mit seinen grünbewachsenen Inseln, weithin duftige
Wiesen wo die Feldblumen nicken, goldenes Kornfeld und sonntägliches Ge¬
läut, wenn ein Thurm aus den Bäumen ragt. Auf dem schmalen Fußsteig,
der durch die Felder führt, begegnen uns Gestalten in der schmucken Landes¬
tracht, wir empfangen und erwidern ihren Gruß und wenn dann das Auge
wieder einsam schweift, dann steigen aus ferner Fläche die dunklen Wälder
empor und über ihnen am westlichen Himmel tiefblaue Berge.

Das ist der Charakter, den die Gegend um Straßburg trägt, sie bietet
kein Bild der Größe, wohl aber ein Stimmungsbild, wie es kaum feiner
empfunden werden kann; ihr Inhalt ist die Idylle, nicht eine große That.

Und jene Stimmung der wir hier Ausdruck geben, sie ward auch von
Besseren getheilt und vorempfunden; diese Stimmung trug den jungen Goethe


Grenzboten II. 1876. 54
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[0429] ob jemand uns hören könne. Dann zog er eine Perrücke ab und ersuchte mich, indem er mir ein Mikroskop einhändigte, seine Kopfhaut zu prüfen und ihm zu sagen, ob er noch irgend welche Hoffnung hätte." . . . .Ich weiß," so schließt dieser Abschnitt, „ein kahlköpfiger Pitman ist weniger bezaubernd als ein Pitman mit Haaren, aber wenn ich die Wahl gehabt hätte zwischen der Erduldung dieses Elends und einem Pitman ohne Augenwimpern und ohne soviel Haare an sich, daß man einen Pinsel daraus machen könnte, so würde ich mich für den letzteren entscheiden. Aber ich werde, begebe sich, was da wolle, kaum wieder einmal ein Zeugniß von einer Heilung ausstellen. Sollte ich meinen Erzeuger von Patent-Medicin eine Mumie, die in dem Jahre gestorben wäre, wo Joseph nach Aegypten ver¬ kauft wurde, hernehmen und sie so lange mit seiner Salbe bearbeiten sehen, bis sie ihre Lumpen von sich würfe und die Polka Mazurka tanzte, während sie sich die Melodie dazu pfiffe, so wollte ich lieber auf dem Scheiterhaufen sterben, als das Wunder auf dem Papier anerkennen. Pitman's Haar hat mir ein Licht aufgesteckt über die Bedeutung von Zeugnissen in medicinischen Angelegenheiten." Unter aus dem Mes. Ausflüge von Straßburg. Die nächste Umgebung von Straßburg ist nicht bestechend für den, der große Formen oder blendende Effekte sucht, allein sie wird Jeden fesseln, der auch den stille wirkenden und anspruchslosen Zauber der Natur belauscht. Da ist der Rhein mit seinen grünbewachsenen Inseln, weithin duftige Wiesen wo die Feldblumen nicken, goldenes Kornfeld und sonntägliches Ge¬ läut, wenn ein Thurm aus den Bäumen ragt. Auf dem schmalen Fußsteig, der durch die Felder führt, begegnen uns Gestalten in der schmucken Landes¬ tracht, wir empfangen und erwidern ihren Gruß und wenn dann das Auge wieder einsam schweift, dann steigen aus ferner Fläche die dunklen Wälder empor und über ihnen am westlichen Himmel tiefblaue Berge. Das ist der Charakter, den die Gegend um Straßburg trägt, sie bietet kein Bild der Größe, wohl aber ein Stimmungsbild, wie es kaum feiner empfunden werden kann; ihr Inhalt ist die Idylle, nicht eine große That. Und jene Stimmung der wir hier Ausdruck geben, sie ward auch von Besseren getheilt und vorempfunden; diese Stimmung trug den jungen Goethe Grenzboten II. 1876. 54

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/429>, abgerufen am 27.11.2024.