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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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geschwätziger und zugleich sentimentaler Unteroffizier soll noch erst in der
deutschen Armee aufgefunden werden.

Die plumpste Erfindung ist aber unzweifelhaft die des Bremer Makkers,
den er zufällig trifft, als dieser gerade zur Börse will und der nun Geschäft
und alles vergißt, um zwei volle Stunden den ihm wildfremden Mr. Tissot
ganz nach seinen Intentionen über Vergangenheit Gegenwart und Zukunft
des deutschen Reiches zu unterhalten. Was muß Herr Tissot von einem
Publikum halten, dem er solche Zumuthungen von Leichtgläubigkeit nicht in
einem Roman sondern in einer ernsthaft sein sollenden Reisebeschreibung zu
machen wagt? Auch die Person des Bremer Schiffscapitains a. D. steht auf
sehr wackeligen Beinen. Der Verfasser hatte ihn aber zu seiner Beweisfüh¬
rung unbedingt nöthig, um die ihm unliebsame Thatsache zu verdunkeln, daß
die Auswanderung aus Deutschland in den letzten Jahren bedeutend abge¬
nommen hat. Deßhalb läßt er ihn plötzlich in einem Anfall von Wuth
neben sich aufspringen und und ausrufen: Immer noch Auswanderer! Die
Zeitungen melden zwar, daß die Auswanderung abnähme, aber ich, der ich
noch klar sehe, ich bemerke nichts davon. Vier Jahre find es nun schon, daß
wir regelmäßig zwei Emigrantenschiffe wöchentlich erpediren.

Ueber die vielen Stellen, wo der Autor sich selbst widerspricht -- man ver¬
gleiche das, was er über die Frankfurterinnen sagt, mit seinen übrigen Aeuße¬
rungen über deutsche Frauen -- über diejenigen, die eine bodenlose Ignoranz
bekunden -- wenn er beispielsweise an der Hamburger Börse die gothischen
Formen bewundert -- über diejenigen, die eine fast rührende Naivität athmen,
wenn er sich beispielsweise über die Art und Weise äußert, in der in Ham¬
burg die Geschäfte betrieben und Heirathen ohne Consens der Eltern ge¬
schlossen werden, können wir nach alledem wohl mit einem Lächeln hinweg¬
gehen. --

Der Gesammteindruck, den das Buch auf uns macht, ist, daß wir
dasselbe mit einem Gefühl tiefer Verachtung für den Autor, aber ohne jeden
Ingrimm bei Seite legen; denn die Albernheiten überwiegen entschieden die
Gemeinheiten darin, und das will viel heißen. Wenn sich jemand durch das
Buch beleidigt fühlen kann, so ist es in erster Reihe das französische Publi¬
kum, dem Herr Tissot so etwas anzubieten wagte. Daß aber dasselbe auf
die ihm von Herrn Tissot dargehaltene Lockspeise so gierig angebissen hat,
liefert den Beweis, daß er sein Publikum weder über- noch unterschätzt hat.
Angenommen, es hätte Jemand die Schamlosigkeit besessen, dem deutschen
Publikum ein ähnliches Machwerk über Frankreich darzubieten, so ist bei uns
schon jeder tüchtige Secundaner soweit über seine Nachbarvölker unterrichtet,
daß er die offenbaren Lügen und Verdrehungen leicht erkannt hätte. Wir
wollen nun keineswegs behaupten, daß es in Frankreich nicht eine große


geschwätziger und zugleich sentimentaler Unteroffizier soll noch erst in der
deutschen Armee aufgefunden werden.

Die plumpste Erfindung ist aber unzweifelhaft die des Bremer Makkers,
den er zufällig trifft, als dieser gerade zur Börse will und der nun Geschäft
und alles vergißt, um zwei volle Stunden den ihm wildfremden Mr. Tissot
ganz nach seinen Intentionen über Vergangenheit Gegenwart und Zukunft
des deutschen Reiches zu unterhalten. Was muß Herr Tissot von einem
Publikum halten, dem er solche Zumuthungen von Leichtgläubigkeit nicht in
einem Roman sondern in einer ernsthaft sein sollenden Reisebeschreibung zu
machen wagt? Auch die Person des Bremer Schiffscapitains a. D. steht auf
sehr wackeligen Beinen. Der Verfasser hatte ihn aber zu seiner Beweisfüh¬
rung unbedingt nöthig, um die ihm unliebsame Thatsache zu verdunkeln, daß
die Auswanderung aus Deutschland in den letzten Jahren bedeutend abge¬
nommen hat. Deßhalb läßt er ihn plötzlich in einem Anfall von Wuth
neben sich aufspringen und und ausrufen: Immer noch Auswanderer! Die
Zeitungen melden zwar, daß die Auswanderung abnähme, aber ich, der ich
noch klar sehe, ich bemerke nichts davon. Vier Jahre find es nun schon, daß
wir regelmäßig zwei Emigrantenschiffe wöchentlich erpediren.

Ueber die vielen Stellen, wo der Autor sich selbst widerspricht — man ver¬
gleiche das, was er über die Frankfurterinnen sagt, mit seinen übrigen Aeuße¬
rungen über deutsche Frauen — über diejenigen, die eine bodenlose Ignoranz
bekunden — wenn er beispielsweise an der Hamburger Börse die gothischen
Formen bewundert — über diejenigen, die eine fast rührende Naivität athmen,
wenn er sich beispielsweise über die Art und Weise äußert, in der in Ham¬
burg die Geschäfte betrieben und Heirathen ohne Consens der Eltern ge¬
schlossen werden, können wir nach alledem wohl mit einem Lächeln hinweg¬
gehen. —

Der Gesammteindruck, den das Buch auf uns macht, ist, daß wir
dasselbe mit einem Gefühl tiefer Verachtung für den Autor, aber ohne jeden
Ingrimm bei Seite legen; denn die Albernheiten überwiegen entschieden die
Gemeinheiten darin, und das will viel heißen. Wenn sich jemand durch das
Buch beleidigt fühlen kann, so ist es in erster Reihe das französische Publi¬
kum, dem Herr Tissot so etwas anzubieten wagte. Daß aber dasselbe auf
die ihm von Herrn Tissot dargehaltene Lockspeise so gierig angebissen hat,
liefert den Beweis, daß er sein Publikum weder über- noch unterschätzt hat.
Angenommen, es hätte Jemand die Schamlosigkeit besessen, dem deutschen
Publikum ein ähnliches Machwerk über Frankreich darzubieten, so ist bei uns
schon jeder tüchtige Secundaner soweit über seine Nachbarvölker unterrichtet,
daß er die offenbaren Lügen und Verdrehungen leicht erkannt hätte. Wir
wollen nun keineswegs behaupten, daß es in Frankreich nicht eine große


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/415>, abgerufen am 23.11.2024.