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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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deutschen Wissenschaft bewahrt haben, beweist er ihnen ganz schlank weg,
daß sie das eigentlich gar nicht nöthig haben. Denn, wenn man Herrn
Tissot glauben darf, so hat sich die deutsche Wissenschaft ihrer Freiheit be¬
geben und sich zu einer unterwürfigen Dienerin des Staates gemacht. Die
Malerkunst, denn von einer andern kann ja im heutigen Deutschland über¬
haupt nicht mehr die Rede sein, entflieht aber eilenden Schrittes.

Während so Religion, Kunst und Wissenschaft sich verflüchtigen, steht
aber der Aberglaube in voller Blüthe. Prophezeihungen über die nahende,
unheilbringende Zukunft werden täglich auf den Markt geworfen. Es sind
dies Symptome, daß das Volk seinen bevorstehenden Untergang bereits ahnt.
Glückliche Völker, sagt er, haben keine Propheten, sie empfinden nicht das
Bedürfniß, in der Zukunft Trost für die Gegenwart zu suchen. Während
der schrecklichen Unglücksfälle des letzten Krieges hatte Frankreich seine Daniel,
seine Kassandren: Die Propheten sind heute seltener geworden, das ist ein
gutes Zeichen. In Deutschland dagegen hat sich seit zwei Jahren die Zahl
derselben verdreifacht. Man verkauft überall Prophezeihungen, auf den Bahn¬
höfen, den öffentlichen Plätzen, in den Cigarrenläden; ihre Colporteure brin¬
gen sie in die Hotels und legen sie während des Essens an der ^adls ä'böte
neben die Teller. Er analysirt dann eine derselben mit einen Ernste, als
handle es sich nicht um die leeren Erfindungen eines Narren oder Betrügers,
sondern um Dinge von der größten Wichtigkeit. Ihm sind diese Prophe¬
zeihungen, von deren Existenz wir Deutschen durch ihn erst unterrichtet werden,
Stimmungsbilder, die einen neuen Beweis liefern, wie sehr Süddeutschland
den Tag herbeisehnt, wo es sich der unnatürlichen Vereinigung mit dem
kalten Norden entwinden kann. Zum Schluß giebt er den Franzosen noch
ein Bild von der deutschen Auswanderung. Mit großem Behagen malt er
dann aus, wie viele Armeekorps schon aus diesen Ausgewanderten hätten ge¬
bildet werden können, die Deutschland natürlich bei einem demnächstigen
Kriege schmerzlich werde entbehren müssen.

So eröffnet sich denn durch das nothwendige Auseinanderfallen des
deutschen Reiches den Franzosen eine hoffnungsvolle Perspective auf eine
schöne Zukunft. Ueberall, sagt Herr Tissot, zeigen sich Symptome der Er¬
schlaffung und der Unzufriedenheit. Die Enttäuschung ist allgemein, und das
Prestige der Siege von 1870 und 1871 verwischt sich zusehends. Ohne schon
aus den Fugen zu gehen, functionirt das Räderwerk der Maschine nicht
mehr so gut, und doch hat die Reihe der inneren Wirren nur eben erst be¬
gonnen.

In der äußeren Politik ist der Kanzler nicht glücklicher gewesen. Eine
ganze Reihe Niederlagen zählt ihm Mr. Tissot vor, aus denen wir uns eine
als besonders charakteristisch hervorheben wollen. Im vergangenen Frühjahr


deutschen Wissenschaft bewahrt haben, beweist er ihnen ganz schlank weg,
daß sie das eigentlich gar nicht nöthig haben. Denn, wenn man Herrn
Tissot glauben darf, so hat sich die deutsche Wissenschaft ihrer Freiheit be¬
geben und sich zu einer unterwürfigen Dienerin des Staates gemacht. Die
Malerkunst, denn von einer andern kann ja im heutigen Deutschland über¬
haupt nicht mehr die Rede sein, entflieht aber eilenden Schrittes.

Während so Religion, Kunst und Wissenschaft sich verflüchtigen, steht
aber der Aberglaube in voller Blüthe. Prophezeihungen über die nahende,
unheilbringende Zukunft werden täglich auf den Markt geworfen. Es sind
dies Symptome, daß das Volk seinen bevorstehenden Untergang bereits ahnt.
Glückliche Völker, sagt er, haben keine Propheten, sie empfinden nicht das
Bedürfniß, in der Zukunft Trost für die Gegenwart zu suchen. Während
der schrecklichen Unglücksfälle des letzten Krieges hatte Frankreich seine Daniel,
seine Kassandren: Die Propheten sind heute seltener geworden, das ist ein
gutes Zeichen. In Deutschland dagegen hat sich seit zwei Jahren die Zahl
derselben verdreifacht. Man verkauft überall Prophezeihungen, auf den Bahn¬
höfen, den öffentlichen Plätzen, in den Cigarrenläden; ihre Colporteure brin¬
gen sie in die Hotels und legen sie während des Essens an der ^adls ä'böte
neben die Teller. Er analysirt dann eine derselben mit einen Ernste, als
handle es sich nicht um die leeren Erfindungen eines Narren oder Betrügers,
sondern um Dinge von der größten Wichtigkeit. Ihm sind diese Prophe¬
zeihungen, von deren Existenz wir Deutschen durch ihn erst unterrichtet werden,
Stimmungsbilder, die einen neuen Beweis liefern, wie sehr Süddeutschland
den Tag herbeisehnt, wo es sich der unnatürlichen Vereinigung mit dem
kalten Norden entwinden kann. Zum Schluß giebt er den Franzosen noch
ein Bild von der deutschen Auswanderung. Mit großem Behagen malt er
dann aus, wie viele Armeekorps schon aus diesen Ausgewanderten hätten ge¬
bildet werden können, die Deutschland natürlich bei einem demnächstigen
Kriege schmerzlich werde entbehren müssen.

So eröffnet sich denn durch das nothwendige Auseinanderfallen des
deutschen Reiches den Franzosen eine hoffnungsvolle Perspective auf eine
schöne Zukunft. Ueberall, sagt Herr Tissot, zeigen sich Symptome der Er¬
schlaffung und der Unzufriedenheit. Die Enttäuschung ist allgemein, und das
Prestige der Siege von 1870 und 1871 verwischt sich zusehends. Ohne schon
aus den Fugen zu gehen, functionirt das Räderwerk der Maschine nicht
mehr so gut, und doch hat die Reihe der inneren Wirren nur eben erst be¬
gonnen.

In der äußeren Politik ist der Kanzler nicht glücklicher gewesen. Eine
ganze Reihe Niederlagen zählt ihm Mr. Tissot vor, aus denen wir uns eine
als besonders charakteristisch hervorheben wollen. Im vergangenen Frühjahr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/412>, abgerufen am 24.11.2024.