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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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schwerfälligen Erscheinung der Deutschen. Was für ein wenig schmeichelhaftes
Bild er speciell von den Baiern entwirft, darüber wollen wir schweigen.
Dann aber sagt er von den Deutschen im Allgemeinen, daß sie das schwer¬
fällige, Umfangreiche lieben. "Laßt einen Teutonen, ruft er aus, zwischen
einer Schnepfe und einer Gans wählen, er wird zur Gans greifen. Ein
Werk, das nicht wenigstens 3 bis 4 Bände stark ist, spricht nicht an und
findet nur wenig Leser; man kann auf Schönheit Anspruch machen, nur wenn
man einen Bauch hat. Wenn Frankreich gleich bei Beginn des Krieges über
den Haufen geworfen wurde, geschah dies nicht vielmehr durch die Quantität
als durch die Qualität? Unsere Generale hätten aufmerksam Montaigne
lesen (der irgendwo gesagt haben soll, daß die Deutschen lieber verschlängen,
als genießen) und dann alles das dazu addiren sollen, was die Boa-Con-
strictor der Brandenburgschen Sandwüste seit Jahrhunderten verschluckt hat.
Die Schwere des Widerstandes (le x1g.t als rösistsnoe) hat uns im Jahre 1870
gefehlt. Eine ganze Theorie läßt sich daraus entwickeln (nach Herrn Tissot
nämlich).

Ueber die sittliche Verwilderung der Deutschen spricht sich der Sittenstrenge
Verfasser folgendermaßen aus:

"Die seit zwei oder drei Jahren veröffentlichten Berichte der Gerichte
constatiren im ganzen Reich eine schreckenerregende Vermehrung der Verbrechen
gegen die öffentliche Ordnung und gegen die Sitten; die unglaubliche Zahl
der Betrügereien und Meineide bestätigt gleicherweise alles, was über die
Demoralisation gesagt ist, worin Deutschland in Folge des Krieges ver¬
sunken ist."

Um aber darüber keinen Zweifel aufkommen zu lassen, daß diese Ent¬
sittlichung alle Kreise der Nation angesteckt habe, sagt er an einer andern
Stelle: Leute von guter Erziehung, welche seit 1866 zugesehen haben, wie
Preußen aus allen Seiten nahm, indem es dabei den Herrgott lobte, der ihm
die Hände zum Nehmen gegeben habe, sind dahin gekommen, nicht mehr
zwischen Mein und Dein zu unterscheiden. Betrug und Raub sind jetzt an
der Mode im Reich der Frömmigkeit und der guten Sitte. Die Liederlichkeit
ist im Norden wie im Süden zu Hause; sie ist nach Herrn Tissot in
München fast ebenso groß als in Berlin. Am Abend werden die schattigen
Plätze des englischen Gartens Theater wahrhafter Saturnalien, berichtet Herr
Tissot, der das wissen muß.

Auf allen Bahnhöfen fand er sodann eine ganze Reihe Bücher ausgestellt,
auf deren Außenseite unzüchtige Bilder schon den Schmutz des Inhalts
deutlich bezeichneten. Die keusche Tinte des Herrn Tissot röthete sich, als er
den Versuch machte, nur einige Titel derselben aus Papier zu bringen. Der
ehrenwerthe Herr hat dabei ganz außer Betracht gelassen, welchen wider-


schwerfälligen Erscheinung der Deutschen. Was für ein wenig schmeichelhaftes
Bild er speciell von den Baiern entwirft, darüber wollen wir schweigen.
Dann aber sagt er von den Deutschen im Allgemeinen, daß sie das schwer¬
fällige, Umfangreiche lieben. „Laßt einen Teutonen, ruft er aus, zwischen
einer Schnepfe und einer Gans wählen, er wird zur Gans greifen. Ein
Werk, das nicht wenigstens 3 bis 4 Bände stark ist, spricht nicht an und
findet nur wenig Leser; man kann auf Schönheit Anspruch machen, nur wenn
man einen Bauch hat. Wenn Frankreich gleich bei Beginn des Krieges über
den Haufen geworfen wurde, geschah dies nicht vielmehr durch die Quantität
als durch die Qualität? Unsere Generale hätten aufmerksam Montaigne
lesen (der irgendwo gesagt haben soll, daß die Deutschen lieber verschlängen,
als genießen) und dann alles das dazu addiren sollen, was die Boa-Con-
strictor der Brandenburgschen Sandwüste seit Jahrhunderten verschluckt hat.
Die Schwere des Widerstandes (le x1g.t als rösistsnoe) hat uns im Jahre 1870
gefehlt. Eine ganze Theorie läßt sich daraus entwickeln (nach Herrn Tissot
nämlich).

Ueber die sittliche Verwilderung der Deutschen spricht sich der Sittenstrenge
Verfasser folgendermaßen aus:

„Die seit zwei oder drei Jahren veröffentlichten Berichte der Gerichte
constatiren im ganzen Reich eine schreckenerregende Vermehrung der Verbrechen
gegen die öffentliche Ordnung und gegen die Sitten; die unglaubliche Zahl
der Betrügereien und Meineide bestätigt gleicherweise alles, was über die
Demoralisation gesagt ist, worin Deutschland in Folge des Krieges ver¬
sunken ist."

Um aber darüber keinen Zweifel aufkommen zu lassen, daß diese Ent¬
sittlichung alle Kreise der Nation angesteckt habe, sagt er an einer andern
Stelle: Leute von guter Erziehung, welche seit 1866 zugesehen haben, wie
Preußen aus allen Seiten nahm, indem es dabei den Herrgott lobte, der ihm
die Hände zum Nehmen gegeben habe, sind dahin gekommen, nicht mehr
zwischen Mein und Dein zu unterscheiden. Betrug und Raub sind jetzt an
der Mode im Reich der Frömmigkeit und der guten Sitte. Die Liederlichkeit
ist im Norden wie im Süden zu Hause; sie ist nach Herrn Tissot in
München fast ebenso groß als in Berlin. Am Abend werden die schattigen
Plätze des englischen Gartens Theater wahrhafter Saturnalien, berichtet Herr
Tissot, der das wissen muß.

Auf allen Bahnhöfen fand er sodann eine ganze Reihe Bücher ausgestellt,
auf deren Außenseite unzüchtige Bilder schon den Schmutz des Inhalts
deutlich bezeichneten. Die keusche Tinte des Herrn Tissot röthete sich, als er
den Versuch machte, nur einige Titel derselben aus Papier zu bringen. Der
ehrenwerthe Herr hat dabei ganz außer Betracht gelassen, welchen wider-


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[0409] schwerfälligen Erscheinung der Deutschen. Was für ein wenig schmeichelhaftes Bild er speciell von den Baiern entwirft, darüber wollen wir schweigen. Dann aber sagt er von den Deutschen im Allgemeinen, daß sie das schwer¬ fällige, Umfangreiche lieben. „Laßt einen Teutonen, ruft er aus, zwischen einer Schnepfe und einer Gans wählen, er wird zur Gans greifen. Ein Werk, das nicht wenigstens 3 bis 4 Bände stark ist, spricht nicht an und findet nur wenig Leser; man kann auf Schönheit Anspruch machen, nur wenn man einen Bauch hat. Wenn Frankreich gleich bei Beginn des Krieges über den Haufen geworfen wurde, geschah dies nicht vielmehr durch die Quantität als durch die Qualität? Unsere Generale hätten aufmerksam Montaigne lesen (der irgendwo gesagt haben soll, daß die Deutschen lieber verschlängen, als genießen) und dann alles das dazu addiren sollen, was die Boa-Con- strictor der Brandenburgschen Sandwüste seit Jahrhunderten verschluckt hat. Die Schwere des Widerstandes (le x1g.t als rösistsnoe) hat uns im Jahre 1870 gefehlt. Eine ganze Theorie läßt sich daraus entwickeln (nach Herrn Tissot nämlich). Ueber die sittliche Verwilderung der Deutschen spricht sich der Sittenstrenge Verfasser folgendermaßen aus: „Die seit zwei oder drei Jahren veröffentlichten Berichte der Gerichte constatiren im ganzen Reich eine schreckenerregende Vermehrung der Verbrechen gegen die öffentliche Ordnung und gegen die Sitten; die unglaubliche Zahl der Betrügereien und Meineide bestätigt gleicherweise alles, was über die Demoralisation gesagt ist, worin Deutschland in Folge des Krieges ver¬ sunken ist." Um aber darüber keinen Zweifel aufkommen zu lassen, daß diese Ent¬ sittlichung alle Kreise der Nation angesteckt habe, sagt er an einer andern Stelle: Leute von guter Erziehung, welche seit 1866 zugesehen haben, wie Preußen aus allen Seiten nahm, indem es dabei den Herrgott lobte, der ihm die Hände zum Nehmen gegeben habe, sind dahin gekommen, nicht mehr zwischen Mein und Dein zu unterscheiden. Betrug und Raub sind jetzt an der Mode im Reich der Frömmigkeit und der guten Sitte. Die Liederlichkeit ist im Norden wie im Süden zu Hause; sie ist nach Herrn Tissot in München fast ebenso groß als in Berlin. Am Abend werden die schattigen Plätze des englischen Gartens Theater wahrhafter Saturnalien, berichtet Herr Tissot, der das wissen muß. Auf allen Bahnhöfen fand er sodann eine ganze Reihe Bücher ausgestellt, auf deren Außenseite unzüchtige Bilder schon den Schmutz des Inhalts deutlich bezeichneten. Die keusche Tinte des Herrn Tissot röthete sich, als er den Versuch machte, nur einige Titel derselben aus Papier zu bringen. Der ehrenwerthe Herr hat dabei ganz außer Betracht gelassen, welchen wider-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/409>, abgerufen am 24.11.2024.