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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Flügel uns nächstens wieder über dem Kopf einfällt. Ganz unbrauchbar
wird auch das Gesetz über die Befähigung für den höheren Verwaltungs¬
dienst ausfallen. Hinsichtlich dieses Gesetzes habe ich einen Irrthum meines
vorigen Briefes richtig zu stellen. Bei der zweiten Berathung desselben am
18. Mai ist nicht beschlossen worden, daß die 1. Prüfung eine juristische und
staatswissenschaftliche sein soll. Die erste Prüfung soll eine nur juristische
sein. Dabei soll aber ein 3jähriges Studium der Rechte und der Staats¬
wissenschaften nachgewiesen werden. Was diese Forderung nach Wegfall der
staatswissenschaftlicher Prüfung für einen Sinn hat, mögen die Götter
wissen. --

In derselben Sitzung erfolgte die Einzelberathung des Gesetzes über den
Austritt aus den Synagogengemeinden. Heinrich von Sybel betonte diesmal
als Gegner nicht die Erhaltung der jüdischen Gesammtgemeinde, sondern den
Umstand, daß die Separationsfreiheit am meisten von den orthodoxen Juden
gefordert werde und deshalb den Fortschritt im Judenthum hemmen könne.
Dieses dünkt uns eine recht unglückliche Argumentation. Andere Redner
jüdische und nichtjüdische, sprachen den Wunsch aus, daß die jüdischen Ge¬
meindeschulen je eher je lieber zu Gunsten der allgemeinen Schule zu Grunde
gehen möchten. Wenn erst die Generation waltet, die aus dieser allgemeinen
Schule hervorgehen würde, dann wird wohl mancher jetzige Befürworter
dieser Schule den Possenvers mitsingen: Dann Scham' ich mich, ein Mensch
zu sein. --

Am 26. Mai stand zur Einzelberathung die neue Städteordnung für
sämmtliche Provinzen des preußischen Staates mit Ausnahme von Hessen,
Hannover und Schleswig-Holstein. Dies ist wiederum eines von jenen Gesetzen,
von denen man höchstens zugeben kann, daß ihre Schaffung jetzt um der
formalen Ordnung willen angezeigt ist. Um aber eine wirklich gute Städte¬
ordnung zu schaffen, dazu fehlt es unserer Gegenwart an Ruhe, an Samm¬
lung, an Fähigkeit, neue oder alte gute Gedanken zu verarbeiten, um sie
praktisch zu machen. Wir sind nicht etwa Anhänger der Kleinmüthigkeit, welche
nach unserer Meinung den Höhepunkt bezeichnet, wohin sich der Doktrinaris¬
mus versteigen kann, daß unsere Zeit keinen Beruf zur Gesetzgebung habe.
Jeder Mensch und jede Zeit hat den Beruf dazu, wozu er die Pflicht hat.
"Du kannst, denn Du sollst." Wer nicht kann, was er soll, der ist ein
Schwächling. Aber wer will uns denn einreden, daß wir Alles an Einem Tage
nachzuholen haben, was in Deutschland seit 1815 versäumt worden ist? Man
thue das Nothwendige gut und gründlich und stelle das minder Nöthige zu¬
rück, um es, wenn man Zeit dafür hat, ebenfalls gut und gründlich zu
thun. -- Bei dieser Städteordnung traten sich sogleich zwei verkehrte An¬
sichten gegenüber. Die eine will das elende Dreiklassenwahlsystem beibehalten,


Flügel uns nächstens wieder über dem Kopf einfällt. Ganz unbrauchbar
wird auch das Gesetz über die Befähigung für den höheren Verwaltungs¬
dienst ausfallen. Hinsichtlich dieses Gesetzes habe ich einen Irrthum meines
vorigen Briefes richtig zu stellen. Bei der zweiten Berathung desselben am
18. Mai ist nicht beschlossen worden, daß die 1. Prüfung eine juristische und
staatswissenschaftliche sein soll. Die erste Prüfung soll eine nur juristische
sein. Dabei soll aber ein 3jähriges Studium der Rechte und der Staats¬
wissenschaften nachgewiesen werden. Was diese Forderung nach Wegfall der
staatswissenschaftlicher Prüfung für einen Sinn hat, mögen die Götter
wissen. —

In derselben Sitzung erfolgte die Einzelberathung des Gesetzes über den
Austritt aus den Synagogengemeinden. Heinrich von Sybel betonte diesmal
als Gegner nicht die Erhaltung der jüdischen Gesammtgemeinde, sondern den
Umstand, daß die Separationsfreiheit am meisten von den orthodoxen Juden
gefordert werde und deshalb den Fortschritt im Judenthum hemmen könne.
Dieses dünkt uns eine recht unglückliche Argumentation. Andere Redner
jüdische und nichtjüdische, sprachen den Wunsch aus, daß die jüdischen Ge¬
meindeschulen je eher je lieber zu Gunsten der allgemeinen Schule zu Grunde
gehen möchten. Wenn erst die Generation waltet, die aus dieser allgemeinen
Schule hervorgehen würde, dann wird wohl mancher jetzige Befürworter
dieser Schule den Possenvers mitsingen: Dann Scham' ich mich, ein Mensch
zu sein. —

Am 26. Mai stand zur Einzelberathung die neue Städteordnung für
sämmtliche Provinzen des preußischen Staates mit Ausnahme von Hessen,
Hannover und Schleswig-Holstein. Dies ist wiederum eines von jenen Gesetzen,
von denen man höchstens zugeben kann, daß ihre Schaffung jetzt um der
formalen Ordnung willen angezeigt ist. Um aber eine wirklich gute Städte¬
ordnung zu schaffen, dazu fehlt es unserer Gegenwart an Ruhe, an Samm¬
lung, an Fähigkeit, neue oder alte gute Gedanken zu verarbeiten, um sie
praktisch zu machen. Wir sind nicht etwa Anhänger der Kleinmüthigkeit, welche
nach unserer Meinung den Höhepunkt bezeichnet, wohin sich der Doktrinaris¬
mus versteigen kann, daß unsere Zeit keinen Beruf zur Gesetzgebung habe.
Jeder Mensch und jede Zeit hat den Beruf dazu, wozu er die Pflicht hat.
„Du kannst, denn Du sollst." Wer nicht kann, was er soll, der ist ein
Schwächling. Aber wer will uns denn einreden, daß wir Alles an Einem Tage
nachzuholen haben, was in Deutschland seit 1815 versäumt worden ist? Man
thue das Nothwendige gut und gründlich und stelle das minder Nöthige zu¬
rück, um es, wenn man Zeit dafür hat, ebenfalls gut und gründlich zu
thun. — Bei dieser Städteordnung traten sich sogleich zwei verkehrte An¬
sichten gegenüber. Die eine will das elende Dreiklassenwahlsystem beibehalten,


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[0396] Flügel uns nächstens wieder über dem Kopf einfällt. Ganz unbrauchbar wird auch das Gesetz über die Befähigung für den höheren Verwaltungs¬ dienst ausfallen. Hinsichtlich dieses Gesetzes habe ich einen Irrthum meines vorigen Briefes richtig zu stellen. Bei der zweiten Berathung desselben am 18. Mai ist nicht beschlossen worden, daß die 1. Prüfung eine juristische und staatswissenschaftliche sein soll. Die erste Prüfung soll eine nur juristische sein. Dabei soll aber ein 3jähriges Studium der Rechte und der Staats¬ wissenschaften nachgewiesen werden. Was diese Forderung nach Wegfall der staatswissenschaftlicher Prüfung für einen Sinn hat, mögen die Götter wissen. — In derselben Sitzung erfolgte die Einzelberathung des Gesetzes über den Austritt aus den Synagogengemeinden. Heinrich von Sybel betonte diesmal als Gegner nicht die Erhaltung der jüdischen Gesammtgemeinde, sondern den Umstand, daß die Separationsfreiheit am meisten von den orthodoxen Juden gefordert werde und deshalb den Fortschritt im Judenthum hemmen könne. Dieses dünkt uns eine recht unglückliche Argumentation. Andere Redner jüdische und nichtjüdische, sprachen den Wunsch aus, daß die jüdischen Ge¬ meindeschulen je eher je lieber zu Gunsten der allgemeinen Schule zu Grunde gehen möchten. Wenn erst die Generation waltet, die aus dieser allgemeinen Schule hervorgehen würde, dann wird wohl mancher jetzige Befürworter dieser Schule den Possenvers mitsingen: Dann Scham' ich mich, ein Mensch zu sein. — Am 26. Mai stand zur Einzelberathung die neue Städteordnung für sämmtliche Provinzen des preußischen Staates mit Ausnahme von Hessen, Hannover und Schleswig-Holstein. Dies ist wiederum eines von jenen Gesetzen, von denen man höchstens zugeben kann, daß ihre Schaffung jetzt um der formalen Ordnung willen angezeigt ist. Um aber eine wirklich gute Städte¬ ordnung zu schaffen, dazu fehlt es unserer Gegenwart an Ruhe, an Samm¬ lung, an Fähigkeit, neue oder alte gute Gedanken zu verarbeiten, um sie praktisch zu machen. Wir sind nicht etwa Anhänger der Kleinmüthigkeit, welche nach unserer Meinung den Höhepunkt bezeichnet, wohin sich der Doktrinaris¬ mus versteigen kann, daß unsere Zeit keinen Beruf zur Gesetzgebung habe. Jeder Mensch und jede Zeit hat den Beruf dazu, wozu er die Pflicht hat. „Du kannst, denn Du sollst." Wer nicht kann, was er soll, der ist ein Schwächling. Aber wer will uns denn einreden, daß wir Alles an Einem Tage nachzuholen haben, was in Deutschland seit 1815 versäumt worden ist? Man thue das Nothwendige gut und gründlich und stelle das minder Nöthige zu¬ rück, um es, wenn man Zeit dafür hat, ebenfalls gut und gründlich zu thun. — Bei dieser Städteordnung traten sich sogleich zwei verkehrte An¬ sichten gegenüber. Die eine will das elende Dreiklassenwahlsystem beibehalten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/396>, abgerufen am 27.07.2024.