Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

gewichtige Laster's erwarten von dem Gesetz nur gute Folgen. Das ist nun
eine Frage rein thatsächlicher Würdigung, in der wir uns vollständig in-
competent fühlen. Wir folgen also der Führung Laster's, wie die Abgeord¬
netenmajorität ihrerseits ebenfalls gethan hat, hüten uns aber vor jeder
Bürgschaftsübernahme für gute Folgen. Wir begreifen auch völlig, daß nicht¬
jüdische Stimmen unter den Abgeordneten, darunter die gewichtige Heinrich's
von Sybel, sich gegen die Borlage erhoben, doch war der letztere nicht glücklich
in der von ihm gewählten Analogie. Er sagte nämlich, bei der evangelischen
Kirchenverfassung sei doch der Antrag Mrchow verworfen worden, daß jede
Minorität in jeder evangelischen Gemeinde sich selbständig constituiren könne.
Aber der Kern des Antrags Virchow lag darin, daß jede solche Minorität
einen nach der Kopfzahl bemessenen Antheil an Kirchengut ausgeantwortet
erhalten soll. Diese Provocation zur Plünderung und Verzettelung des Kirchen¬
gutes ist mit Recht abgelehnt worden, aber keinem Mitglied der evangelischen
Kirche ist irgendwie verwehrt, durch Austrittserklärung sich von den Gemeinde¬
lasten frei zu machen und mit seinesgleichen neue Religtonsgesellschaften zu bilden.
Noch unzutreffender ist die Analogie mit den Altkatholiken. Das Recht dieser
letzteren wird nur geschützt, sofern sie sich den vatikanischen Katholiken
gegenüber als Anhänger der vorvattkanischen Lehre und Praxis ausweisen.

Die Einzelberathung des Gesetzes im Plenum wurde geschlossen. Es
folgten dann technische Gesetze, darunter die Verlegung des Haushaltjahres
von April zu April anstatt von Januar zu Januar.

Am 23. Mai erfolgte die Einzelberathung des durch eine Commission
vorbereiteten sogenannten Competenzgesetzes, welches bezweckt, die zahllosen
neuen Organe, welche durch die Kreisordnung von 1872, namentlich aber
durch die Provinzialordnung von 1873 ins Leben gerufen, soviel als möglich
vor der Verstrickung in einen unentwirrbaren Knäul zu bewahren. Es ist
eine bittere Ironie auf die sogenannte Selbstverwaltung, wie sie hier organi-
strt worden, daß diese Organe immer neue Organe verlangen. Da hat so¬
gleich die Commission beschlossen, daß es nicht nur, wie bisher, Stadtkreise
geben soll -- Städte, die einen eigenen Kreis bilden -- sondern auch exi-
mirte Kreisstädte, d. h. Städte, die innerhalb des Kreises nicht unter der
verwaltungsrichterlichen Instanz des Kreisausschusses stehen, sondern für
welche und in welchen als solche Instanz ein besonderer Stadtausschuß ge¬
bildet wird. Ja, der vielgeschmähten Bureaukratie konnten Stadt und Land
gemeinsam ohne Beschwerde und sogar mit Vertrauen folgen. Nun aber die
sogenannte Selbstverwaltung kommt, geht sogleich der alte Prozeß an: die
Particularisation in inünitum, die erst ein Ende hat, wenn man wieder bei
der Bureaukratie anlangt. So haben wir früher gesehen, wie die Stadtkreise
nicht unter dem Provinzial-Ausschuß stehen wollten, sondern direkt unter dem


gewichtige Laster's erwarten von dem Gesetz nur gute Folgen. Das ist nun
eine Frage rein thatsächlicher Würdigung, in der wir uns vollständig in-
competent fühlen. Wir folgen also der Führung Laster's, wie die Abgeord¬
netenmajorität ihrerseits ebenfalls gethan hat, hüten uns aber vor jeder
Bürgschaftsübernahme für gute Folgen. Wir begreifen auch völlig, daß nicht¬
jüdische Stimmen unter den Abgeordneten, darunter die gewichtige Heinrich's
von Sybel, sich gegen die Borlage erhoben, doch war der letztere nicht glücklich
in der von ihm gewählten Analogie. Er sagte nämlich, bei der evangelischen
Kirchenverfassung sei doch der Antrag Mrchow verworfen worden, daß jede
Minorität in jeder evangelischen Gemeinde sich selbständig constituiren könne.
Aber der Kern des Antrags Virchow lag darin, daß jede solche Minorität
einen nach der Kopfzahl bemessenen Antheil an Kirchengut ausgeantwortet
erhalten soll. Diese Provocation zur Plünderung und Verzettelung des Kirchen¬
gutes ist mit Recht abgelehnt worden, aber keinem Mitglied der evangelischen
Kirche ist irgendwie verwehrt, durch Austrittserklärung sich von den Gemeinde¬
lasten frei zu machen und mit seinesgleichen neue Religtonsgesellschaften zu bilden.
Noch unzutreffender ist die Analogie mit den Altkatholiken. Das Recht dieser
letzteren wird nur geschützt, sofern sie sich den vatikanischen Katholiken
gegenüber als Anhänger der vorvattkanischen Lehre und Praxis ausweisen.

Die Einzelberathung des Gesetzes im Plenum wurde geschlossen. Es
folgten dann technische Gesetze, darunter die Verlegung des Haushaltjahres
von April zu April anstatt von Januar zu Januar.

Am 23. Mai erfolgte die Einzelberathung des durch eine Commission
vorbereiteten sogenannten Competenzgesetzes, welches bezweckt, die zahllosen
neuen Organe, welche durch die Kreisordnung von 1872, namentlich aber
durch die Provinzialordnung von 1873 ins Leben gerufen, soviel als möglich
vor der Verstrickung in einen unentwirrbaren Knäul zu bewahren. Es ist
eine bittere Ironie auf die sogenannte Selbstverwaltung, wie sie hier organi-
strt worden, daß diese Organe immer neue Organe verlangen. Da hat so¬
gleich die Commission beschlossen, daß es nicht nur, wie bisher, Stadtkreise
geben soll — Städte, die einen eigenen Kreis bilden — sondern auch exi-
mirte Kreisstädte, d. h. Städte, die innerhalb des Kreises nicht unter der
verwaltungsrichterlichen Instanz des Kreisausschusses stehen, sondern für
welche und in welchen als solche Instanz ein besonderer Stadtausschuß ge¬
bildet wird. Ja, der vielgeschmähten Bureaukratie konnten Stadt und Land
gemeinsam ohne Beschwerde und sogar mit Vertrauen folgen. Nun aber die
sogenannte Selbstverwaltung kommt, geht sogleich der alte Prozeß an: die
Particularisation in inünitum, die erst ein Ende hat, wenn man wieder bei
der Bureaukratie anlangt. So haben wir früher gesehen, wie die Stadtkreise
nicht unter dem Provinzial-Ausschuß stehen wollten, sondern direkt unter dem


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135975"/>
          <p xml:id="ID_1306" prev="#ID_1305"> gewichtige Laster's erwarten von dem Gesetz nur gute Folgen. Das ist nun<lb/>
eine Frage rein thatsächlicher Würdigung, in der wir uns vollständig in-<lb/>
competent fühlen. Wir folgen also der Führung Laster's, wie die Abgeord¬<lb/>
netenmajorität ihrerseits ebenfalls gethan hat, hüten uns aber vor jeder<lb/>
Bürgschaftsübernahme für gute Folgen. Wir begreifen auch völlig, daß nicht¬<lb/>
jüdische Stimmen unter den Abgeordneten, darunter die gewichtige Heinrich's<lb/>
von Sybel, sich gegen die Borlage erhoben, doch war der letztere nicht glücklich<lb/>
in der von ihm gewählten Analogie. Er sagte nämlich, bei der evangelischen<lb/>
Kirchenverfassung sei doch der Antrag Mrchow verworfen worden, daß jede<lb/>
Minorität in jeder evangelischen Gemeinde sich selbständig constituiren könne.<lb/>
Aber der Kern des Antrags Virchow lag darin, daß jede solche Minorität<lb/>
einen nach der Kopfzahl bemessenen Antheil an Kirchengut ausgeantwortet<lb/>
erhalten soll. Diese Provocation zur Plünderung und Verzettelung des Kirchen¬<lb/>
gutes ist mit Recht abgelehnt worden, aber keinem Mitglied der evangelischen<lb/>
Kirche ist irgendwie verwehrt, durch Austrittserklärung sich von den Gemeinde¬<lb/>
lasten frei zu machen und mit seinesgleichen neue Religtonsgesellschaften zu bilden.<lb/>
Noch unzutreffender ist die Analogie mit den Altkatholiken. Das Recht dieser<lb/>
letzteren wird nur geschützt, sofern sie sich den vatikanischen Katholiken<lb/>
gegenüber als Anhänger der vorvattkanischen Lehre und Praxis ausweisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1307"> Die Einzelberathung des Gesetzes im Plenum wurde geschlossen. Es<lb/>
folgten dann technische Gesetze, darunter die Verlegung des Haushaltjahres<lb/>
von April zu April anstatt von Januar zu Januar.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1308" next="#ID_1309"> Am 23. Mai erfolgte die Einzelberathung des durch eine Commission<lb/>
vorbereiteten sogenannten Competenzgesetzes, welches bezweckt, die zahllosen<lb/>
neuen Organe, welche durch die Kreisordnung von 1872, namentlich aber<lb/>
durch die Provinzialordnung von 1873 ins Leben gerufen, soviel als möglich<lb/>
vor der Verstrickung in einen unentwirrbaren Knäul zu bewahren. Es ist<lb/>
eine bittere Ironie auf die sogenannte Selbstverwaltung, wie sie hier organi-<lb/>
strt worden, daß diese Organe immer neue Organe verlangen. Da hat so¬<lb/>
gleich die Commission beschlossen, daß es nicht nur, wie bisher, Stadtkreise<lb/>
geben soll &#x2014; Städte, die einen eigenen Kreis bilden &#x2014; sondern auch exi-<lb/>
mirte Kreisstädte, d. h. Städte, die innerhalb des Kreises nicht unter der<lb/>
verwaltungsrichterlichen Instanz des Kreisausschusses stehen, sondern für<lb/>
welche und in welchen als solche Instanz ein besonderer Stadtausschuß ge¬<lb/>
bildet wird. Ja, der vielgeschmähten Bureaukratie konnten Stadt und Land<lb/>
gemeinsam ohne Beschwerde und sogar mit Vertrauen folgen. Nun aber die<lb/>
sogenannte Selbstverwaltung kommt, geht sogleich der alte Prozeß an: die<lb/>
Particularisation in inünitum, die erst ein Ende hat, wenn man wieder bei<lb/>
der Bureaukratie anlangt. So haben wir früher gesehen, wie die Stadtkreise<lb/>
nicht unter dem Provinzial-Ausschuß stehen wollten, sondern direkt unter dem</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0394] gewichtige Laster's erwarten von dem Gesetz nur gute Folgen. Das ist nun eine Frage rein thatsächlicher Würdigung, in der wir uns vollständig in- competent fühlen. Wir folgen also der Führung Laster's, wie die Abgeord¬ netenmajorität ihrerseits ebenfalls gethan hat, hüten uns aber vor jeder Bürgschaftsübernahme für gute Folgen. Wir begreifen auch völlig, daß nicht¬ jüdische Stimmen unter den Abgeordneten, darunter die gewichtige Heinrich's von Sybel, sich gegen die Borlage erhoben, doch war der letztere nicht glücklich in der von ihm gewählten Analogie. Er sagte nämlich, bei der evangelischen Kirchenverfassung sei doch der Antrag Mrchow verworfen worden, daß jede Minorität in jeder evangelischen Gemeinde sich selbständig constituiren könne. Aber der Kern des Antrags Virchow lag darin, daß jede solche Minorität einen nach der Kopfzahl bemessenen Antheil an Kirchengut ausgeantwortet erhalten soll. Diese Provocation zur Plünderung und Verzettelung des Kirchen¬ gutes ist mit Recht abgelehnt worden, aber keinem Mitglied der evangelischen Kirche ist irgendwie verwehrt, durch Austrittserklärung sich von den Gemeinde¬ lasten frei zu machen und mit seinesgleichen neue Religtonsgesellschaften zu bilden. Noch unzutreffender ist die Analogie mit den Altkatholiken. Das Recht dieser letzteren wird nur geschützt, sofern sie sich den vatikanischen Katholiken gegenüber als Anhänger der vorvattkanischen Lehre und Praxis ausweisen. Die Einzelberathung des Gesetzes im Plenum wurde geschlossen. Es folgten dann technische Gesetze, darunter die Verlegung des Haushaltjahres von April zu April anstatt von Januar zu Januar. Am 23. Mai erfolgte die Einzelberathung des durch eine Commission vorbereiteten sogenannten Competenzgesetzes, welches bezweckt, die zahllosen neuen Organe, welche durch die Kreisordnung von 1872, namentlich aber durch die Provinzialordnung von 1873 ins Leben gerufen, soviel als möglich vor der Verstrickung in einen unentwirrbaren Knäul zu bewahren. Es ist eine bittere Ironie auf die sogenannte Selbstverwaltung, wie sie hier organi- strt worden, daß diese Organe immer neue Organe verlangen. Da hat so¬ gleich die Commission beschlossen, daß es nicht nur, wie bisher, Stadtkreise geben soll — Städte, die einen eigenen Kreis bilden — sondern auch exi- mirte Kreisstädte, d. h. Städte, die innerhalb des Kreises nicht unter der verwaltungsrichterlichen Instanz des Kreisausschusses stehen, sondern für welche und in welchen als solche Instanz ein besonderer Stadtausschuß ge¬ bildet wird. Ja, der vielgeschmähten Bureaukratie konnten Stadt und Land gemeinsam ohne Beschwerde und sogar mit Vertrauen folgen. Nun aber die sogenannte Selbstverwaltung kommt, geht sogleich der alte Prozeß an: die Particularisation in inünitum, die erst ein Ende hat, wenn man wieder bei der Bureaukratie anlangt. So haben wir früher gesehen, wie die Stadtkreise nicht unter dem Provinzial-Ausschuß stehen wollten, sondern direkt unter dem

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/394
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/394>, abgerufen am 27.07.2024.