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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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zur verhängnißvollen That getrieben, und vertheidigt nun, was sie rücksichtslos
gethan, mit rücksichtsloser Entschiedenheit und mit der Erhabenheit einer Seele,
die durch all den Jammer, den sie mit angesehn hat, schon fast zum Verzicht
auf Menschenglück getrieben, auf menschliche Satzungen, die dem ewigen Götter¬
recht und den heiligen Pietätspflichten widersprechen, verachtungsvoll hernieder¬
schaut. Damit steht zwar in Contrast, aber in einem überaus schönen und
die Kunst des großen Dramatikers in hellstem Lichte zeigenden Contrast, daß
der Jungfrau, als sie den gräßlichen Tod sich unabwendbar nahe sieht, nun
das Leben, das sie aufgeben muß, in so lichtem Glänze erscheint, wie sie es
früher nie geahnt. An ihren Grundsätzen hält sie freilich auch da unerschüt¬
terlich fest, und ihre heldenmüthige That erscheint so als ein noch größeres
Opfer und sie selber als ein Wesen von Fleisch und Blut, nicht als hohle,
leere Abstraction. Seine Ansicht von der geschlossenen Einheit der Dramen
könnte Türschmann also auch dann aufrecht erhalten und durch sein meister¬
haftes Darstellungstalent zum Ausdruck bringen, wenn er in der dargelegten
Weise den Charakter der Antigone auffaßte.

Die anderen Gestalten der drei Tragödieen, wenn wir von Tiresias ab¬
sehen, in dem Türschmann mehr die priesterliche Anmaßung als die priester¬
liche Hoheit zur Anschauung brachte, stellte er so dar, wie man die Charaktere
sich gewöhnlich denkt. Vortrefflich zeichnete er den edlen klaren Sinn des
Theseus, den pietätsvollen, sonst besonnenen und nur durch die Liebe zur
Antigone zum offenen Bruch mit dem Vater fortgerissenen Hämon, die milde
und doch zum größten Opfer bereite Jsmene. Das war alles voll und tief
empfunden, alles lebenswarm und anschaulich, zum Theil von erschütternder,
lange nachklingender Wirkung. Welche ungewöhnliche dramatische Gewalt zum
Beispiel die Scene im König Oedipus hat, in welcher er sich als den Mörder
seines Vaters und den Gemahl seiner Mutter erkennt, ist wohl vielen Zu¬
hörern erst durch diese vorzügliche Darstellung zu klarem Bewußtsein gekommen.
Aber auch die Chorsteller, die er nicht nur in den Rhythmen des Originals,
sondern auch melodiös auf- und niederwogen ließ, brachten bei dem herr¬
lichen Organ des Vortragenden eine ganz eigenthümliche, unbeschreibliche
Wirkung hervor.

Türschmann hat sich durch diese Recitation das große Verdienst erworben,
kostbare dichterische Schätze, die in der Regel nur weniger Eingeweihten mit
vollem Glänze entgegenleuchten, einem größeren Publikum zu klareren Ver¬
ständniß zu bringen. An dankbarer Anerkennung für diese Leistung hat es
ihm in Stettin auch nicht gefehlt, und mit vollem Recht brachten dem geist¬
vollen Recitator des Sophokles die Primaner des Marienstiftsgymnasiums
an dem Abende, als er die Antigone sprach, den wohlverdienten Lorbeerkranz.


Franz Kern.


zur verhängnißvollen That getrieben, und vertheidigt nun, was sie rücksichtslos
gethan, mit rücksichtsloser Entschiedenheit und mit der Erhabenheit einer Seele,
die durch all den Jammer, den sie mit angesehn hat, schon fast zum Verzicht
auf Menschenglück getrieben, auf menschliche Satzungen, die dem ewigen Götter¬
recht und den heiligen Pietätspflichten widersprechen, verachtungsvoll hernieder¬
schaut. Damit steht zwar in Contrast, aber in einem überaus schönen und
die Kunst des großen Dramatikers in hellstem Lichte zeigenden Contrast, daß
der Jungfrau, als sie den gräßlichen Tod sich unabwendbar nahe sieht, nun
das Leben, das sie aufgeben muß, in so lichtem Glänze erscheint, wie sie es
früher nie geahnt. An ihren Grundsätzen hält sie freilich auch da unerschüt¬
terlich fest, und ihre heldenmüthige That erscheint so als ein noch größeres
Opfer und sie selber als ein Wesen von Fleisch und Blut, nicht als hohle,
leere Abstraction. Seine Ansicht von der geschlossenen Einheit der Dramen
könnte Türschmann also auch dann aufrecht erhalten und durch sein meister¬
haftes Darstellungstalent zum Ausdruck bringen, wenn er in der dargelegten
Weise den Charakter der Antigone auffaßte.

Die anderen Gestalten der drei Tragödieen, wenn wir von Tiresias ab¬
sehen, in dem Türschmann mehr die priesterliche Anmaßung als die priester¬
liche Hoheit zur Anschauung brachte, stellte er so dar, wie man die Charaktere
sich gewöhnlich denkt. Vortrefflich zeichnete er den edlen klaren Sinn des
Theseus, den pietätsvollen, sonst besonnenen und nur durch die Liebe zur
Antigone zum offenen Bruch mit dem Vater fortgerissenen Hämon, die milde
und doch zum größten Opfer bereite Jsmene. Das war alles voll und tief
empfunden, alles lebenswarm und anschaulich, zum Theil von erschütternder,
lange nachklingender Wirkung. Welche ungewöhnliche dramatische Gewalt zum
Beispiel die Scene im König Oedipus hat, in welcher er sich als den Mörder
seines Vaters und den Gemahl seiner Mutter erkennt, ist wohl vielen Zu¬
hörern erst durch diese vorzügliche Darstellung zu klarem Bewußtsein gekommen.
Aber auch die Chorsteller, die er nicht nur in den Rhythmen des Originals,
sondern auch melodiös auf- und niederwogen ließ, brachten bei dem herr¬
lichen Organ des Vortragenden eine ganz eigenthümliche, unbeschreibliche
Wirkung hervor.

Türschmann hat sich durch diese Recitation das große Verdienst erworben,
kostbare dichterische Schätze, die in der Regel nur weniger Eingeweihten mit
vollem Glänze entgegenleuchten, einem größeren Publikum zu klareren Ver¬
ständniß zu bringen. An dankbarer Anerkennung für diese Leistung hat es
ihm in Stettin auch nicht gefehlt, und mit vollem Recht brachten dem geist¬
vollen Recitator des Sophokles die Primaner des Marienstiftsgymnasiums
an dem Abende, als er die Antigone sprach, den wohlverdienten Lorbeerkranz.


Franz Kern.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/33>, abgerufen am 27.07.2024.