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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Ich will den Ausführungen von Lazarus nicht weiter folgen; ich will
vielmehr die Bedeutung dieses Gesetzes, daß die Auffassung einer Wahrneh¬
mung oder Vorstellung abhängig ist von der vorhandenen Vorstellungsmasse
als dem Inhalt der auffassenden Seele, an einem Beispiel darzulegen ver¬
suchen, das zugleich den Einfluß dieses Gesetzes auf die Entwicklung von Be¬
rsten, Idealen und Weltanschauungen zeigen soll. Ich wähle den Begriff
der Materie.

Es giebt zwei Wege der Naturforschung. Den einen und ältesten, den
namentlich die Griechen aufbauten und der noch heute viel begangen wird,
nenne ich den ästhetisirenden, insofern man dabei von subjectiven
Empfindungen, von ästhetischem Wohlgefallen und Mißfallen ausgeht und
in subjectiven Sinnestäuschungen verharrt. Auf dem anderen Wege sucht
Man die Natur zu erforschen auf Grund der Induction oder Erfahrung, in¬
dem man subjective Empfindung sowie Sinnestäuschung möglichst fernzu¬
halten, und das Thatsächliche durch freithätiges Experimentiren festzustellen
sucht. Dies ist der wissenschaftliche und somit wahrhaft philosophische
Weg, der eigentlich erst seit der Zeit Baco's und Galilei's betreten wurde.

Die ästhetisirende Forschung geht von der subjectiven Gewißheit aus,
daß die Seele die Bewegerin des trägen Leibes sei, daß beseelte Wesen, Thiere
und Menschen, die irdischen Körper, die Stoffe, die Materie bewegen, formen,
gestalten. Hiermit wird die Seele zur Kraft, zum Activen, Bewegenden, Gesetz,
Form und Gestaltung Verleihenden. Die Materie dagegen erscheint als das
Kraftlose, Passive, Träge, Gesetz-, Form- und Gestaltlose. Und insofern die
Seele denkend in Idealen schwelgt, aber die Trivialität des Daseins zu oft
die reinsten Hoffnungen trübt und nur Getrübtes, Unvollkommenes zur Er¬
scheinung kommen läßt, so wird bei dieser ästhetisirenden Gegenüberstellung
die Seele das Reine, die Materie das Unreine, Rohe, Gemeine. Am schroffsten
spitzten Plato und Aristoteles diese Gegensätze zu, und ihre ascetische Ver¬
achtung der Materie übertrugen sie auch auf Leukipp und Demokrit, weil
diese alles aus Atomen entstanden erklärten. Man sagte, das sei eine rohe,
sinnliche, materielle Anschauung. Und doch war sie ästhetisirend so gut wie
die von Plato und Aristoteles; denn die Seele ward nach Leukipp und Demo¬
krit aus den reinsten, feinsten, beweglichsten Atomen gebildet, während
das sinnlich Körperliche aus den gröberen, trägeren Atomen gebildet
sein sollte, doch so daß jeder Körper aus einer Mischung grober und feiner
"der reiner Atome zusammengesetzt sein sollte. Nur waren in Luft, Feuer,
Metallen die reinen, kräftigen Atome vorherrschender als in Stein und Erde.
Dieselbe Aesthetik, welche Demokrit trieb mit den Atomen als Bausteinen der
Körper, trieben Plato und Aristoteles mit ihren Bausteinen der Körper, den
Elementen.


Ich will den Ausführungen von Lazarus nicht weiter folgen; ich will
vielmehr die Bedeutung dieses Gesetzes, daß die Auffassung einer Wahrneh¬
mung oder Vorstellung abhängig ist von der vorhandenen Vorstellungsmasse
als dem Inhalt der auffassenden Seele, an einem Beispiel darzulegen ver¬
suchen, das zugleich den Einfluß dieses Gesetzes auf die Entwicklung von Be¬
rsten, Idealen und Weltanschauungen zeigen soll. Ich wähle den Begriff
der Materie.

Es giebt zwei Wege der Naturforschung. Den einen und ältesten, den
namentlich die Griechen aufbauten und der noch heute viel begangen wird,
nenne ich den ästhetisirenden, insofern man dabei von subjectiven
Empfindungen, von ästhetischem Wohlgefallen und Mißfallen ausgeht und
in subjectiven Sinnestäuschungen verharrt. Auf dem anderen Wege sucht
Man die Natur zu erforschen auf Grund der Induction oder Erfahrung, in¬
dem man subjective Empfindung sowie Sinnestäuschung möglichst fernzu¬
halten, und das Thatsächliche durch freithätiges Experimentiren festzustellen
sucht. Dies ist der wissenschaftliche und somit wahrhaft philosophische
Weg, der eigentlich erst seit der Zeit Baco's und Galilei's betreten wurde.

Die ästhetisirende Forschung geht von der subjectiven Gewißheit aus,
daß die Seele die Bewegerin des trägen Leibes sei, daß beseelte Wesen, Thiere
und Menschen, die irdischen Körper, die Stoffe, die Materie bewegen, formen,
gestalten. Hiermit wird die Seele zur Kraft, zum Activen, Bewegenden, Gesetz,
Form und Gestaltung Verleihenden. Die Materie dagegen erscheint als das
Kraftlose, Passive, Träge, Gesetz-, Form- und Gestaltlose. Und insofern die
Seele denkend in Idealen schwelgt, aber die Trivialität des Daseins zu oft
die reinsten Hoffnungen trübt und nur Getrübtes, Unvollkommenes zur Er¬
scheinung kommen läßt, so wird bei dieser ästhetisirenden Gegenüberstellung
die Seele das Reine, die Materie das Unreine, Rohe, Gemeine. Am schroffsten
spitzten Plato und Aristoteles diese Gegensätze zu, und ihre ascetische Ver¬
achtung der Materie übertrugen sie auch auf Leukipp und Demokrit, weil
diese alles aus Atomen entstanden erklärten. Man sagte, das sei eine rohe,
sinnliche, materielle Anschauung. Und doch war sie ästhetisirend so gut wie
die von Plato und Aristoteles; denn die Seele ward nach Leukipp und Demo¬
krit aus den reinsten, feinsten, beweglichsten Atomen gebildet, während
das sinnlich Körperliche aus den gröberen, trägeren Atomen gebildet
sein sollte, doch so daß jeder Körper aus einer Mischung grober und feiner
"der reiner Atome zusammengesetzt sein sollte. Nur waren in Luft, Feuer,
Metallen die reinen, kräftigen Atome vorherrschender als in Stein und Erde.
Dieselbe Aesthetik, welche Demokrit trieb mit den Atomen als Bausteinen der
Körper, trieben Plato und Aristoteles mit ihren Bausteinen der Körper, den
Elementen.


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[0327] Ich will den Ausführungen von Lazarus nicht weiter folgen; ich will vielmehr die Bedeutung dieses Gesetzes, daß die Auffassung einer Wahrneh¬ mung oder Vorstellung abhängig ist von der vorhandenen Vorstellungsmasse als dem Inhalt der auffassenden Seele, an einem Beispiel darzulegen ver¬ suchen, das zugleich den Einfluß dieses Gesetzes auf die Entwicklung von Be¬ rsten, Idealen und Weltanschauungen zeigen soll. Ich wähle den Begriff der Materie. Es giebt zwei Wege der Naturforschung. Den einen und ältesten, den namentlich die Griechen aufbauten und der noch heute viel begangen wird, nenne ich den ästhetisirenden, insofern man dabei von subjectiven Empfindungen, von ästhetischem Wohlgefallen und Mißfallen ausgeht und in subjectiven Sinnestäuschungen verharrt. Auf dem anderen Wege sucht Man die Natur zu erforschen auf Grund der Induction oder Erfahrung, in¬ dem man subjective Empfindung sowie Sinnestäuschung möglichst fernzu¬ halten, und das Thatsächliche durch freithätiges Experimentiren festzustellen sucht. Dies ist der wissenschaftliche und somit wahrhaft philosophische Weg, der eigentlich erst seit der Zeit Baco's und Galilei's betreten wurde. Die ästhetisirende Forschung geht von der subjectiven Gewißheit aus, daß die Seele die Bewegerin des trägen Leibes sei, daß beseelte Wesen, Thiere und Menschen, die irdischen Körper, die Stoffe, die Materie bewegen, formen, gestalten. Hiermit wird die Seele zur Kraft, zum Activen, Bewegenden, Gesetz, Form und Gestaltung Verleihenden. Die Materie dagegen erscheint als das Kraftlose, Passive, Träge, Gesetz-, Form- und Gestaltlose. Und insofern die Seele denkend in Idealen schwelgt, aber die Trivialität des Daseins zu oft die reinsten Hoffnungen trübt und nur Getrübtes, Unvollkommenes zur Er¬ scheinung kommen läßt, so wird bei dieser ästhetisirenden Gegenüberstellung die Seele das Reine, die Materie das Unreine, Rohe, Gemeine. Am schroffsten spitzten Plato und Aristoteles diese Gegensätze zu, und ihre ascetische Ver¬ achtung der Materie übertrugen sie auch auf Leukipp und Demokrit, weil diese alles aus Atomen entstanden erklärten. Man sagte, das sei eine rohe, sinnliche, materielle Anschauung. Und doch war sie ästhetisirend so gut wie die von Plato und Aristoteles; denn die Seele ward nach Leukipp und Demo¬ krit aus den reinsten, feinsten, beweglichsten Atomen gebildet, während das sinnlich Körperliche aus den gröberen, trägeren Atomen gebildet sein sollte, doch so daß jeder Körper aus einer Mischung grober und feiner "der reiner Atome zusammengesetzt sein sollte. Nur waren in Luft, Feuer, Metallen die reinen, kräftigen Atome vorherrschender als in Stein und Erde. Dieselbe Aesthetik, welche Demokrit trieb mit den Atomen als Bausteinen der Körper, trieben Plato und Aristoteles mit ihren Bausteinen der Körper, den Elementen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/327>, abgerufen am 27.07.2024.