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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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denken -- wahrhaft, mit dem Instinkt der Wahrheit, ganz naturgetreu,
wird er nur diejenige wiedergeben, die ihm als die heimatliche, schon als
Kind vertraut war, deren Perspektive sozusagen mit ihm geboren ist. Wie
Ueberhand, Gude, Calame nur dann ganz in ihrem Elemente sind, wenn sie
niederdeutsche, norwegische, schweizerische Landschaften malen, so ist auch jener
Potter'sche Stier nicht nur als Thierstück, sondern auch deshalb so einzigartig,
weil der Meister auf diesem Bilde seine heimatliche Luftperspektive, wie sie
durch die ins Endlose sich ausdehnenden Grasflächen, den darüber ausge¬
spannten unabsehbaren Horizont und die diesen bedeckenden von dem Moor
aufsteigenden wandelbaren, grotesken Wolkenbildungen bedingt ist, in ihrer
innersten und eigensten Lebensregung dargestellt hat. Der Fürst der hollän¬
dischen Weiden ist in Lebensgröße gemalt; man kann sich lange nicht mit
dem Gedanken vertraut machen, daß das nur Thierleben aus Leinwand, daß
der dummdreiste Blick, der uns anstiert, nicht wirkliche Natur ist.

Die genannten drei Bilder allein nehmen schon viel Zeit in Anspruch
und wir haben wenig mehr für die andern Abtheilungen des Museums übrig:
für das "Kuriositäten"- und das "historische Reliquienkabinet". In ersterem
entfalten China und Japan in außerordentlicher Vollständigkeit ihr eigen¬
thümliches, so schroff isoltrtes und doch so kultivirtes Leben vor den Augen
des neugierig in die Heimlichkeiten des Reiches der Mitte eindringenden
"Barbaren". Durch die Zwischenstufe einer reichhaltigen, die ganze Erde um¬
fassenden ethnologischen Sammlung gelangen wir nun noch in die historische
Abtheilung, um hier im Beschauen des Einfacheren, aber ungemein Werth¬
vollen theils das Auge von dem Gewirre des vorher Gesehenen ausruhen zu
lassen, theils das Gemüth und den Geist in ernster Betrachtung zusammen¬
nehmen zu können. Hollands Geschichte kann hier in den Reliquien ihrer
wichtigsten und ruhmreichsten Kapitel gelesen werden, im Geusenbecher und
Geusennapf sowohl, als in dem Degen des tapfern Lieutenants van Speyk,
der 1831 bei Antwerpen sein Kanonenboot in die Luft sprengte, um die
holländische Flagge vor Beschimpfung zu retten. An keinem Gegenstand aus
all den verschiedenen Zeiten und Begebenheiten aber wird man mit größerer
Theilnahme verweilen, als bei jenem Koller von glattem grauem Leder, der,
von zwei Kugeln durchlöchert, noch die Spuren des Pulvers und Blutflecken
ieigt. Das Ptstol, das dieses Blut fließen machte, und die beiden unheilvollen
Kugeln liegen daneben -- die Kugeln, welche die Brust Wilhelm's von
Oranien durchbohrten."

Nach dem Museum mögen noch die "nautischen Sammlungen des Marine-
winisteriums und das Münz-, Medaillon- und Cameenkabinet in der Bibliothek
genannt werden. Die antiken Gemmen des letztern gehören zu den seltensten
und schönsten der Welt. Goethe hatte durch den bekannten Alterrhumsforscher


denken — wahrhaft, mit dem Instinkt der Wahrheit, ganz naturgetreu,
wird er nur diejenige wiedergeben, die ihm als die heimatliche, schon als
Kind vertraut war, deren Perspektive sozusagen mit ihm geboren ist. Wie
Ueberhand, Gude, Calame nur dann ganz in ihrem Elemente sind, wenn sie
niederdeutsche, norwegische, schweizerische Landschaften malen, so ist auch jener
Potter'sche Stier nicht nur als Thierstück, sondern auch deshalb so einzigartig,
weil der Meister auf diesem Bilde seine heimatliche Luftperspektive, wie sie
durch die ins Endlose sich ausdehnenden Grasflächen, den darüber ausge¬
spannten unabsehbaren Horizont und die diesen bedeckenden von dem Moor
aufsteigenden wandelbaren, grotesken Wolkenbildungen bedingt ist, in ihrer
innersten und eigensten Lebensregung dargestellt hat. Der Fürst der hollän¬
dischen Weiden ist in Lebensgröße gemalt; man kann sich lange nicht mit
dem Gedanken vertraut machen, daß das nur Thierleben aus Leinwand, daß
der dummdreiste Blick, der uns anstiert, nicht wirkliche Natur ist.

Die genannten drei Bilder allein nehmen schon viel Zeit in Anspruch
und wir haben wenig mehr für die andern Abtheilungen des Museums übrig:
für das „Kuriositäten"- und das „historische Reliquienkabinet". In ersterem
entfalten China und Japan in außerordentlicher Vollständigkeit ihr eigen¬
thümliches, so schroff isoltrtes und doch so kultivirtes Leben vor den Augen
des neugierig in die Heimlichkeiten des Reiches der Mitte eindringenden
„Barbaren". Durch die Zwischenstufe einer reichhaltigen, die ganze Erde um¬
fassenden ethnologischen Sammlung gelangen wir nun noch in die historische
Abtheilung, um hier im Beschauen des Einfacheren, aber ungemein Werth¬
vollen theils das Auge von dem Gewirre des vorher Gesehenen ausruhen zu
lassen, theils das Gemüth und den Geist in ernster Betrachtung zusammen¬
nehmen zu können. Hollands Geschichte kann hier in den Reliquien ihrer
wichtigsten und ruhmreichsten Kapitel gelesen werden, im Geusenbecher und
Geusennapf sowohl, als in dem Degen des tapfern Lieutenants van Speyk,
der 1831 bei Antwerpen sein Kanonenboot in die Luft sprengte, um die
holländische Flagge vor Beschimpfung zu retten. An keinem Gegenstand aus
all den verschiedenen Zeiten und Begebenheiten aber wird man mit größerer
Theilnahme verweilen, als bei jenem Koller von glattem grauem Leder, der,
von zwei Kugeln durchlöchert, noch die Spuren des Pulvers und Blutflecken
ieigt. Das Ptstol, das dieses Blut fließen machte, und die beiden unheilvollen
Kugeln liegen daneben — die Kugeln, welche die Brust Wilhelm's von
Oranien durchbohrten."

Nach dem Museum mögen noch die „nautischen Sammlungen des Marine-
winisteriums und das Münz-, Medaillon- und Cameenkabinet in der Bibliothek
genannt werden. Die antiken Gemmen des letztern gehören zu den seltensten
und schönsten der Welt. Goethe hatte durch den bekannten Alterrhumsforscher


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/231>, abgerufen am 27.11.2024.