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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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Seiten die Straße groß und breit genug neben dem zwischen ihnen träg
hingleitenden Canal, und an dessen Ufer stehen hohe stattliche Bäume, deren
Kronen oft hoch an die Häuser hinaufreichen, deren Zweige sich fast in ein¬
ander hineinflechten, so daß man auf der Straße oder auf dem Canal, wie
unter einem Laubdache, dahinfährt. Merkwürdig aber, daß diese eigenthümliche
Physiognomie aller holländischen Städte gerade der Hauptstadt des Landes
fehlt, daß sie gerade es ist, in welcher man sich auf einmal in ein ganz
anderes Land versetzt, in ganz verschiedene Lebens- und Volksverhältnisse ge¬
kommen wähnt. Aber es ist auch eigentlich ganz unrichtig, wenn man den
Haag oder s'Gravenhage oder La Haye -- so nennt sich in dreifacher Be¬
zeichnung verschiedener Zunge Hollands Residenz- und Königsstadt -- auch
seine Hauptstadt heißt. Eine Hauptstadt muß wirklich das Haupt des
Landes, ja noch mehr, das Herz sein, von dem jegliches, nicht blos das po¬
litische, sondern auch das geistige Leben in die Provinzen ausströmt; sie muß
immer das Gepräge ihres Landes in einer gewissen Totalität an sich tragen,
mit diesem auch in ihrer äußern Erscheinung übereinstimmen. Das ist aber
beim Haag bei weitem nicht der Fall; er ist nur Residenz und Königssitz
und übt als solcher einen viel geringern Einfluß auf das Land aus, als z. B.
Amsterdam und Rotterdam. Das war er aber von Anfang seiner Geschichte
an, von da ab, wo ihm das Jagdschloß der Grafen von Holland im lustigen
"Gehege" den Namen gab, bis auf die Zeit, wo ihn Lucian Bonaparte erst
vom Flecken zur Stadt erhob und aus die neuesten Tage, wo er allerdings
ein stattlicher Fürstenhof geworden ist.

Mit der allgemeinen Geschichte der Niederlande trat der Haag schon 1681
in Verbindung, indem hier im gedachten Jahre nach Bertreibung der Spanier
eine für das sich begründende Staatsrecht der jungen Staaten wichtige Ver¬
sammlung gehalten wurde. Ebenso fand 1608 zu s'Gravenhage die erste
Unterhandlung zwischen Holland und Spanien unter der Vermittlung von
Frankreich und England zur Schließung eines Waffenstillstandes statt, welcher
ein Jahr darauf zu Antwerpen wirklich zu Stande kam. Und noch war das
Jahr 1691 ein wichtiges und glänzendes für die Stadt, indem es eine große
Versammlung, unter ihr auch die Kurfürsten von Bayern und Brandenburg
zu ihr brachte, welche durch Wilhelm III. von Oranien, der Engländer König
und Ludwig's XIV. kluger Gegner ein BertheidigungsbündniH gegen Frank¬
reich schloß, das nicht ohne Erfolg blieb.

Wir haben den Charakter des Haags vorhin bestimmt. Königshaus und
Aristokratie, Diplomaten- und Beamtenwelt geben ihm seinen Glanz; aber
keine einzige jener großen Quellen inneren Reichthums strömt von ihm aus,
durch welche die andern Städte Hollands blühen. Und so ist auch, wie schon
gesagt, sein äußeres Ansehen von dem dieser sehr verschieden; höchstens noch


Seiten die Straße groß und breit genug neben dem zwischen ihnen träg
hingleitenden Canal, und an dessen Ufer stehen hohe stattliche Bäume, deren
Kronen oft hoch an die Häuser hinaufreichen, deren Zweige sich fast in ein¬
ander hineinflechten, so daß man auf der Straße oder auf dem Canal, wie
unter einem Laubdache, dahinfährt. Merkwürdig aber, daß diese eigenthümliche
Physiognomie aller holländischen Städte gerade der Hauptstadt des Landes
fehlt, daß sie gerade es ist, in welcher man sich auf einmal in ein ganz
anderes Land versetzt, in ganz verschiedene Lebens- und Volksverhältnisse ge¬
kommen wähnt. Aber es ist auch eigentlich ganz unrichtig, wenn man den
Haag oder s'Gravenhage oder La Haye — so nennt sich in dreifacher Be¬
zeichnung verschiedener Zunge Hollands Residenz- und Königsstadt — auch
seine Hauptstadt heißt. Eine Hauptstadt muß wirklich das Haupt des
Landes, ja noch mehr, das Herz sein, von dem jegliches, nicht blos das po¬
litische, sondern auch das geistige Leben in die Provinzen ausströmt; sie muß
immer das Gepräge ihres Landes in einer gewissen Totalität an sich tragen,
mit diesem auch in ihrer äußern Erscheinung übereinstimmen. Das ist aber
beim Haag bei weitem nicht der Fall; er ist nur Residenz und Königssitz
und übt als solcher einen viel geringern Einfluß auf das Land aus, als z. B.
Amsterdam und Rotterdam. Das war er aber von Anfang seiner Geschichte
an, von da ab, wo ihm das Jagdschloß der Grafen von Holland im lustigen
„Gehege" den Namen gab, bis auf die Zeit, wo ihn Lucian Bonaparte erst
vom Flecken zur Stadt erhob und aus die neuesten Tage, wo er allerdings
ein stattlicher Fürstenhof geworden ist.

Mit der allgemeinen Geschichte der Niederlande trat der Haag schon 1681
in Verbindung, indem hier im gedachten Jahre nach Bertreibung der Spanier
eine für das sich begründende Staatsrecht der jungen Staaten wichtige Ver¬
sammlung gehalten wurde. Ebenso fand 1608 zu s'Gravenhage die erste
Unterhandlung zwischen Holland und Spanien unter der Vermittlung von
Frankreich und England zur Schließung eines Waffenstillstandes statt, welcher
ein Jahr darauf zu Antwerpen wirklich zu Stande kam. Und noch war das
Jahr 1691 ein wichtiges und glänzendes für die Stadt, indem es eine große
Versammlung, unter ihr auch die Kurfürsten von Bayern und Brandenburg
zu ihr brachte, welche durch Wilhelm III. von Oranien, der Engländer König
und Ludwig's XIV. kluger Gegner ein BertheidigungsbündniH gegen Frank¬
reich schloß, das nicht ohne Erfolg blieb.

Wir haben den Charakter des Haags vorhin bestimmt. Königshaus und
Aristokratie, Diplomaten- und Beamtenwelt geben ihm seinen Glanz; aber
keine einzige jener großen Quellen inneren Reichthums strömt von ihm aus,
durch welche die andern Städte Hollands blühen. Und so ist auch, wie schon
gesagt, sein äußeres Ansehen von dem dieser sehr verschieden; höchstens noch


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[0192] Seiten die Straße groß und breit genug neben dem zwischen ihnen träg hingleitenden Canal, und an dessen Ufer stehen hohe stattliche Bäume, deren Kronen oft hoch an die Häuser hinaufreichen, deren Zweige sich fast in ein¬ ander hineinflechten, so daß man auf der Straße oder auf dem Canal, wie unter einem Laubdache, dahinfährt. Merkwürdig aber, daß diese eigenthümliche Physiognomie aller holländischen Städte gerade der Hauptstadt des Landes fehlt, daß sie gerade es ist, in welcher man sich auf einmal in ein ganz anderes Land versetzt, in ganz verschiedene Lebens- und Volksverhältnisse ge¬ kommen wähnt. Aber es ist auch eigentlich ganz unrichtig, wenn man den Haag oder s'Gravenhage oder La Haye — so nennt sich in dreifacher Be¬ zeichnung verschiedener Zunge Hollands Residenz- und Königsstadt — auch seine Hauptstadt heißt. Eine Hauptstadt muß wirklich das Haupt des Landes, ja noch mehr, das Herz sein, von dem jegliches, nicht blos das po¬ litische, sondern auch das geistige Leben in die Provinzen ausströmt; sie muß immer das Gepräge ihres Landes in einer gewissen Totalität an sich tragen, mit diesem auch in ihrer äußern Erscheinung übereinstimmen. Das ist aber beim Haag bei weitem nicht der Fall; er ist nur Residenz und Königssitz und übt als solcher einen viel geringern Einfluß auf das Land aus, als z. B. Amsterdam und Rotterdam. Das war er aber von Anfang seiner Geschichte an, von da ab, wo ihm das Jagdschloß der Grafen von Holland im lustigen „Gehege" den Namen gab, bis auf die Zeit, wo ihn Lucian Bonaparte erst vom Flecken zur Stadt erhob und aus die neuesten Tage, wo er allerdings ein stattlicher Fürstenhof geworden ist. Mit der allgemeinen Geschichte der Niederlande trat der Haag schon 1681 in Verbindung, indem hier im gedachten Jahre nach Bertreibung der Spanier eine für das sich begründende Staatsrecht der jungen Staaten wichtige Ver¬ sammlung gehalten wurde. Ebenso fand 1608 zu s'Gravenhage die erste Unterhandlung zwischen Holland und Spanien unter der Vermittlung von Frankreich und England zur Schließung eines Waffenstillstandes statt, welcher ein Jahr darauf zu Antwerpen wirklich zu Stande kam. Und noch war das Jahr 1691 ein wichtiges und glänzendes für die Stadt, indem es eine große Versammlung, unter ihr auch die Kurfürsten von Bayern und Brandenburg zu ihr brachte, welche durch Wilhelm III. von Oranien, der Engländer König und Ludwig's XIV. kluger Gegner ein BertheidigungsbündniH gegen Frank¬ reich schloß, das nicht ohne Erfolg blieb. Wir haben den Charakter des Haags vorhin bestimmt. Königshaus und Aristokratie, Diplomaten- und Beamtenwelt geben ihm seinen Glanz; aber keine einzige jener großen Quellen inneren Reichthums strömt von ihm aus, durch welche die andern Städte Hollands blühen. Und so ist auch, wie schon gesagt, sein äußeres Ansehen von dem dieser sehr verschieden; höchstens noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/192>, abgerufen am 27.11.2024.