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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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gegangen. Das Fleisch des Bären aber diente ihnen für den Winter zur
Nahrung, Später sagten die Leute Nagasungnak, wie er sich zu verhalten
habe, wenn sie auf die Jagd nach den sprechenden Vögeln und den Fischen
gingen, die beide Augen auf einer Seite hätten. Er schlug es aber in den
Wind, und so fing er nichts von den Vögeln und Fischen. Zuletzt warnten
sie ihn vor den bald zu erwartenden Mücken, die so groß wie Möven wären
und Stachel wie Speerspitzen hätten. Nakasungnak aber richtete sich wieder
nicht nach ihnen. Als die Mückenwolke von Süden her erschien, und alle sich
in ihre Zelte flüchteten, blieb er draußen. Als alles vorüber war, sahen die
Leute sich nach ihm um, sie fanden aber nur sein Gerippe.

Eine Anzahl von Brüdern besaß eine Schwester, der sie nicht erlauben
wollten, zu heirathen. Da sie aber nun viele Freier hatte, wurde sie endlich
schwanger, und weil sie die Vorwürfe der Brüder fürchtete, gebar sie insge¬
heim. Das Kind aber wurde ein "Anghiak". d. h. ein Rachegeist. Es las
den Schädel eines Hundes auf und gebrauchte ihn als Boot, indem es mit
dem Armknochen eines Mannes ruderte. Des Nachts kroch es in das Haus
und saugte an der Brust seiner Mutter. Am Tage aber verfolgte es die
Brüder derselben auf der See und ließ sie einen nach dem andern untergehen.
Daraus bereute es seine Missethaten und flüchtete nach dem Norden, wo es
w ein Haus schlüpfte, in welchem eine Beschwörung stattfand, und dessen
Bewohner bei seinem Anblick vor Schrecken starben. Dann kehrte es nach der
Wohnung seiner Mutter zurück, wo es sich in einen Haufen Kehricht ver¬
kroch. Der Zauberer des Ortes war gerade dabei, die Ursache des Todes
der Brüder zu erforschen. Er fragte die Schwester, die zuerst nicht gestehen
wollte, aber zuletzt ihr Vergehen bekannte, indem sie sagte: "Es war kein
wirkliches Kind." In demselben Augenblicke fühlte der Anghiak einen Schmerz
in seinem Kopfe, und als sie ihre Erzählung fortsetzte, starb er.

In einem Hause, in welchem mehrere Familien wohnten, lag eine Frau
in Kindsnöthen. Da hörte man plötzlich die Hebamme schreien: "Ach, es ist
ein Ungeheuer mit großen Zähnen, es zerfleischt mir den Arm!" Darauf
liefen alle Anwesenden davon, die einen unter ein umgestülptes Boot, die andern
auf den Gipfel eines steilen Berges, nur zwei Knaben mit ihrer Schwester
fanden keine andere Zuflucht als das Vorrathshaus in der Nähe. Inzwischen
erschien das Ungeheuer, indem es seine eigne Mutter mit aufgelösten Haaren
hinter sich herschleppte. Erst wendete es sich gegen die unter dem Boote und
fraß sie auf. Dann lief es an den Felsen, wo die Obenstehenden in ihrer
Angst einander herunterstießen und dann verschlungen wurden, bis nur noch
einer übrig war. Da befahl das Ungeheuer dem Felsen, umzufallen, und
so wurde auch jener Letzte umgebracht. Dann wendete sich das Ungethüm
gegen das Vorrathshaus, wo die Kinder waren, hielt aber ein und ging statt


Grenzboten II. 1870. ^ 22

gegangen. Das Fleisch des Bären aber diente ihnen für den Winter zur
Nahrung, Später sagten die Leute Nagasungnak, wie er sich zu verhalten
habe, wenn sie auf die Jagd nach den sprechenden Vögeln und den Fischen
gingen, die beide Augen auf einer Seite hätten. Er schlug es aber in den
Wind, und so fing er nichts von den Vögeln und Fischen. Zuletzt warnten
sie ihn vor den bald zu erwartenden Mücken, die so groß wie Möven wären
und Stachel wie Speerspitzen hätten. Nakasungnak aber richtete sich wieder
nicht nach ihnen. Als die Mückenwolke von Süden her erschien, und alle sich
in ihre Zelte flüchteten, blieb er draußen. Als alles vorüber war, sahen die
Leute sich nach ihm um, sie fanden aber nur sein Gerippe.

Eine Anzahl von Brüdern besaß eine Schwester, der sie nicht erlauben
wollten, zu heirathen. Da sie aber nun viele Freier hatte, wurde sie endlich
schwanger, und weil sie die Vorwürfe der Brüder fürchtete, gebar sie insge¬
heim. Das Kind aber wurde ein „Anghiak". d. h. ein Rachegeist. Es las
den Schädel eines Hundes auf und gebrauchte ihn als Boot, indem es mit
dem Armknochen eines Mannes ruderte. Des Nachts kroch es in das Haus
und saugte an der Brust seiner Mutter. Am Tage aber verfolgte es die
Brüder derselben auf der See und ließ sie einen nach dem andern untergehen.
Daraus bereute es seine Missethaten und flüchtete nach dem Norden, wo es
w ein Haus schlüpfte, in welchem eine Beschwörung stattfand, und dessen
Bewohner bei seinem Anblick vor Schrecken starben. Dann kehrte es nach der
Wohnung seiner Mutter zurück, wo es sich in einen Haufen Kehricht ver¬
kroch. Der Zauberer des Ortes war gerade dabei, die Ursache des Todes
der Brüder zu erforschen. Er fragte die Schwester, die zuerst nicht gestehen
wollte, aber zuletzt ihr Vergehen bekannte, indem sie sagte: „Es war kein
wirkliches Kind." In demselben Augenblicke fühlte der Anghiak einen Schmerz
in seinem Kopfe, und als sie ihre Erzählung fortsetzte, starb er.

In einem Hause, in welchem mehrere Familien wohnten, lag eine Frau
in Kindsnöthen. Da hörte man plötzlich die Hebamme schreien: „Ach, es ist
ein Ungeheuer mit großen Zähnen, es zerfleischt mir den Arm!" Darauf
liefen alle Anwesenden davon, die einen unter ein umgestülptes Boot, die andern
auf den Gipfel eines steilen Berges, nur zwei Knaben mit ihrer Schwester
fanden keine andere Zuflucht als das Vorrathshaus in der Nähe. Inzwischen
erschien das Ungeheuer, indem es seine eigne Mutter mit aufgelösten Haaren
hinter sich herschleppte. Erst wendete es sich gegen die unter dem Boote und
fraß sie auf. Dann lief es an den Felsen, wo die Obenstehenden in ihrer
Angst einander herunterstießen und dann verschlungen wurden, bis nur noch
einer übrig war. Da befahl das Ungeheuer dem Felsen, umzufallen, und
so wurde auch jener Letzte umgebracht. Dann wendete sich das Ungethüm
gegen das Vorrathshaus, wo die Kinder waren, hielt aber ein und ging statt


Grenzboten II. 1870. ^ 22
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[0173] gegangen. Das Fleisch des Bären aber diente ihnen für den Winter zur Nahrung, Später sagten die Leute Nagasungnak, wie er sich zu verhalten habe, wenn sie auf die Jagd nach den sprechenden Vögeln und den Fischen gingen, die beide Augen auf einer Seite hätten. Er schlug es aber in den Wind, und so fing er nichts von den Vögeln und Fischen. Zuletzt warnten sie ihn vor den bald zu erwartenden Mücken, die so groß wie Möven wären und Stachel wie Speerspitzen hätten. Nakasungnak aber richtete sich wieder nicht nach ihnen. Als die Mückenwolke von Süden her erschien, und alle sich in ihre Zelte flüchteten, blieb er draußen. Als alles vorüber war, sahen die Leute sich nach ihm um, sie fanden aber nur sein Gerippe. Eine Anzahl von Brüdern besaß eine Schwester, der sie nicht erlauben wollten, zu heirathen. Da sie aber nun viele Freier hatte, wurde sie endlich schwanger, und weil sie die Vorwürfe der Brüder fürchtete, gebar sie insge¬ heim. Das Kind aber wurde ein „Anghiak". d. h. ein Rachegeist. Es las den Schädel eines Hundes auf und gebrauchte ihn als Boot, indem es mit dem Armknochen eines Mannes ruderte. Des Nachts kroch es in das Haus und saugte an der Brust seiner Mutter. Am Tage aber verfolgte es die Brüder derselben auf der See und ließ sie einen nach dem andern untergehen. Daraus bereute es seine Missethaten und flüchtete nach dem Norden, wo es w ein Haus schlüpfte, in welchem eine Beschwörung stattfand, und dessen Bewohner bei seinem Anblick vor Schrecken starben. Dann kehrte es nach der Wohnung seiner Mutter zurück, wo es sich in einen Haufen Kehricht ver¬ kroch. Der Zauberer des Ortes war gerade dabei, die Ursache des Todes der Brüder zu erforschen. Er fragte die Schwester, die zuerst nicht gestehen wollte, aber zuletzt ihr Vergehen bekannte, indem sie sagte: „Es war kein wirkliches Kind." In demselben Augenblicke fühlte der Anghiak einen Schmerz in seinem Kopfe, und als sie ihre Erzählung fortsetzte, starb er. In einem Hause, in welchem mehrere Familien wohnten, lag eine Frau in Kindsnöthen. Da hörte man plötzlich die Hebamme schreien: „Ach, es ist ein Ungeheuer mit großen Zähnen, es zerfleischt mir den Arm!" Darauf liefen alle Anwesenden davon, die einen unter ein umgestülptes Boot, die andern auf den Gipfel eines steilen Berges, nur zwei Knaben mit ihrer Schwester fanden keine andere Zuflucht als das Vorrathshaus in der Nähe. Inzwischen erschien das Ungeheuer, indem es seine eigne Mutter mit aufgelösten Haaren hinter sich herschleppte. Erst wendete es sich gegen die unter dem Boote und fraß sie auf. Dann lief es an den Felsen, wo die Obenstehenden in ihrer Angst einander herunterstießen und dann verschlungen wurden, bis nur noch einer übrig war. Da befahl das Ungeheuer dem Felsen, umzufallen, und so wurde auch jener Letzte umgebracht. Dann wendete sich das Ungethüm gegen das Vorrathshaus, wo die Kinder waren, hielt aber ein und ging statt Grenzboten II. 1870. ^ 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/173>, abgerufen am 27.11.2024.