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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band.

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anzieht; darum ist Vorbei nie populär geworden; er erfreute sich nur der
Verehrung eines kleinen Kreises, aber das Volk staunte ihn an, wie eine in
ihrer Erhabenheit unbegriffene Gottheit. Trotz der überschwenglichen Lobes¬
erhebungen seiner Zeitgenossen, worunter Hugo Grotius, die ihn einem Sopho¬
kles und Euripides gleich achteten, erreichte der Dichter doch nur einen sueeös
ä'estims. Vorbei's Dramen unterlagen auf der Bühne des 17. Jahrhunderts
Bewerbern viel niedrigerer und geschmackloserer Art, die durch Bühneneffecte
zweifelhafter Natur das Volk zu fesseln wußten. Die kunstgerechtere Form*),
die, trotz ihres Schwulstes, reinere und edlere Sprache Vorbei's boten keinen
Ersatz für den Mangel an Handlung.

Bei der Beurtheilung holländischer Dichter fällt ein Umstand sehr ins
Gewicht. Die holländische Schriftsprache hat sich hauptsächlich zur Zeit und
unter dem Einfluß Vorbei's und Hooft's ausgebildet. Aber diese Schrift¬
sprache war und ist wesentlich etwas ganz anderes als die gesprochene Sprache.
Diese letztere, der Dialect, wird noch jetzt von den gebildeten Holländern ge¬
sprochen, obgleich diese Umgangssprache von dem Dialect der untern Volks¬
klassen wieder einigermaßen verschieden ist. Wer grammatikalisch richtiges,
geschriebenes Holländisch, die Sprache der classischen Schriftsteller, sprechen
wollte, der würde nothwendig Lachen erregen. Die modernen Schriftsteller
bemühen sich zwar, die Scheidewand zwischen den beiden Sprachen abzubrechen
die Schriftsprache dem Dialect anzupassen; sie stoßen aber auf die Schwierig¬
keit der Verschiedenheit der an den verschiedenen Orten des Landes gesprochenen
Dialecte, welche so groß ist, daß ein Bewohner Groningens in der Provinz
Holland oder Seeland nicht verstanden wird, und daß diese Dialecte der
Grammatik spotten. Immerhin aber ist die Schriftsprache schon der gesprochenen
Sprache ähnlicher und deßhalb auch natürlicher geworden. Vorbei hat die
Sprache von dem Einfluß des Welschen gereinigt, das sich unter der bur¬
gundischen Herrschaft bei den Gebildeten eingebürgert hatte. Im Gegensatz
zur Sprache der südlichen Nachbarn nannte Vorbei seine Sprache: Deutsch!
und er hat sich in dieser Beziehung sehr große Verdienste um sein adoptirtes
Vaterland erworben. Aber zur lebendigen Sprache hat er es nicht gebracht.
Darum ist die Sprache der Dichtungen Vorbei's und der andern holländischen
Classiker durchweg unnatürlich und pedantisch, breit und schließlich langweilig
und schwerfällig.

Dieses Alles zusammengenommen erklärt, daß Vorbei, den wir trotz alle-
dem den bedeutendsten der holländischen Dichter nennen müssen, dem Volke
und selbst den Gebildeten desselben unbekannt geblieben ist. Dennoch ver¬
ehrt dieses Volk ihn und erhebt ihn zu einer unverhältnißmäßigen Höhe.



') Vorbei hielt sich streng an der Lehre von den drei Einheiten; das Versmaaß ist durch-
gängig fließend, die Reime sind häufig gezwungen.

anzieht; darum ist Vorbei nie populär geworden; er erfreute sich nur der
Verehrung eines kleinen Kreises, aber das Volk staunte ihn an, wie eine in
ihrer Erhabenheit unbegriffene Gottheit. Trotz der überschwenglichen Lobes¬
erhebungen seiner Zeitgenossen, worunter Hugo Grotius, die ihn einem Sopho¬
kles und Euripides gleich achteten, erreichte der Dichter doch nur einen sueeös
ä'estims. Vorbei's Dramen unterlagen auf der Bühne des 17. Jahrhunderts
Bewerbern viel niedrigerer und geschmackloserer Art, die durch Bühneneffecte
zweifelhafter Natur das Volk zu fesseln wußten. Die kunstgerechtere Form*),
die, trotz ihres Schwulstes, reinere und edlere Sprache Vorbei's boten keinen
Ersatz für den Mangel an Handlung.

Bei der Beurtheilung holländischer Dichter fällt ein Umstand sehr ins
Gewicht. Die holländische Schriftsprache hat sich hauptsächlich zur Zeit und
unter dem Einfluß Vorbei's und Hooft's ausgebildet. Aber diese Schrift¬
sprache war und ist wesentlich etwas ganz anderes als die gesprochene Sprache.
Diese letztere, der Dialect, wird noch jetzt von den gebildeten Holländern ge¬
sprochen, obgleich diese Umgangssprache von dem Dialect der untern Volks¬
klassen wieder einigermaßen verschieden ist. Wer grammatikalisch richtiges,
geschriebenes Holländisch, die Sprache der classischen Schriftsteller, sprechen
wollte, der würde nothwendig Lachen erregen. Die modernen Schriftsteller
bemühen sich zwar, die Scheidewand zwischen den beiden Sprachen abzubrechen
die Schriftsprache dem Dialect anzupassen; sie stoßen aber auf die Schwierig¬
keit der Verschiedenheit der an den verschiedenen Orten des Landes gesprochenen
Dialecte, welche so groß ist, daß ein Bewohner Groningens in der Provinz
Holland oder Seeland nicht verstanden wird, und daß diese Dialecte der
Grammatik spotten. Immerhin aber ist die Schriftsprache schon der gesprochenen
Sprache ähnlicher und deßhalb auch natürlicher geworden. Vorbei hat die
Sprache von dem Einfluß des Welschen gereinigt, das sich unter der bur¬
gundischen Herrschaft bei den Gebildeten eingebürgert hatte. Im Gegensatz
zur Sprache der südlichen Nachbarn nannte Vorbei seine Sprache: Deutsch!
und er hat sich in dieser Beziehung sehr große Verdienste um sein adoptirtes
Vaterland erworben. Aber zur lebendigen Sprache hat er es nicht gebracht.
Darum ist die Sprache der Dichtungen Vorbei's und der andern holländischen
Classiker durchweg unnatürlich und pedantisch, breit und schließlich langweilig
und schwerfällig.

Dieses Alles zusammengenommen erklärt, daß Vorbei, den wir trotz alle-
dem den bedeutendsten der holländischen Dichter nennen müssen, dem Volke
und selbst den Gebildeten desselben unbekannt geblieben ist. Dennoch ver¬
ehrt dieses Volk ihn und erhebt ihn zu einer unverhältnißmäßigen Höhe.



') Vorbei hielt sich streng an der Lehre von den drei Einheiten; das Versmaaß ist durch-
gängig fließend, die Reime sind häufig gezwungen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157638/12>, abgerufen am 27.11.2024.