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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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An der Hand einer Anzahl von Visitationsberichten über meißnische, leipziger,
thüringische, nassauische und hessische Dorfpfarrer charakterisirt uns der Ver¬
fasser diesen Stand als damals über die Maßen verwildert. Die Pastoren
zu Riesa und in dem benachbarten Grödel sind Schenkwirthe. Schloßprediger
Seigel in Gotha klagt sich bei seinem Herzog selbst des "Vollsaufens" an
und will deshalb das Amt aufgeben. Der Generalsuperintendent Agricola
muß sich von Luther maßloses Bierschwelgen vorwerfen lassen. Auch sonstige
Liederlichkeit und daneben die ungeheuerlichste Unwissenheit sind unter der
protestantischen Geistlichkeit jener Tage die Regel, bis bessere Zustände durch
die weltliche Obrigkeit und durch das Familienleben angebahnt werden. Dabei
ist die pecuniäre Lage der Pfarrer fast allenthalben eine erbärmliche, was
vom Verfasser durch Angabe in Betreff des Amtseinkommens derselben in
Sachsen, Thüringen und Hamburg dargethan wird. Schließlich erhalten wir
eine Zeichnung der berüchtigten Streittheologen der lutherischen Kirche mit
Stilproben aus ihren Schriften und Predigten und Stellen aus den Man¬
daten, die gegen diese wilden und unfläthigen Fanatiker ergingen. Der zweite
Abschnitt nennt sich "Fürsten und Fürstinnen", enthält aber wenig mehr als
Mittheilungen aus dem Leben des Kurfürsten Friedrich's des Frommen von
der Pfalz und der Familie, dieses guten, aber stets in Geldnoth steckenden
Herrn. Reicher wieder an interessanten Stellen ist das dritte Kapitel, das
unter der Ueberschrift "die Presse" Allerlei über den Büchermarkt des sech¬
zehnten Jahrhunderts, Meßkataloge, Censur, Preßproeesse, Confiscationen von
Schriften u. d. bringt, worunter der Proceß gegen das seiner Zeit berühmte
Spottgedicht "die Nachtigall", welches in Folge der Grumbach'schen Händel
entstand und unter andern Potentaten auch den heimtückischen, argwöhnischen
und rachsüchtigen Kurfürsten August (in den sächsischen Schulen lehrt man
ihn als "Vater August" verehren) zur Zielscheibe nahm, eine Hauptstelle ein¬
nimmt. Das vierte Kapitel endlich, das sich über das peinliche Recht von
damals verbreitet, bringt wenig Neues; denn sowohl die Hinrichtung Grum-
bach's und seiner Genossen, von keiner türkischen oder mongolischen Scheußlich¬
keit überboten, als andere hier angeführte Proben der Metzgerjustiz jener Zeit
sind nicht blos Geschichtschreibern, Juristen und andern Fachleuten bekannt.
Gut gesagt und als Moral des Buches hervorzuheben ist, was der Ver¬
sasser gegen den Schluß hin bemerkt: "Anders giebt sich ein Zeitalter, wenn
man nur seine Helden und ihre Thaten und Wirkungen auf die Nachwelt
mit dem Auge der Bewunderung beschaut, anders, wenn man Personen und
Zeiten nahe auf den Leib rückt und von den erhabenen "Gipfeln, auf welche
uns vorzugsweise die allgemeine Weltgeschichte stellt, herabsteigt in die Niede¬
rungen der gemeinen Wirklichkeit. Aber je tiefer der?,Schlamm und je trost¬
loser das Chaos, das da zum Vorschein kommt, um so größer und bewun-


An der Hand einer Anzahl von Visitationsberichten über meißnische, leipziger,
thüringische, nassauische und hessische Dorfpfarrer charakterisirt uns der Ver¬
fasser diesen Stand als damals über die Maßen verwildert. Die Pastoren
zu Riesa und in dem benachbarten Grödel sind Schenkwirthe. Schloßprediger
Seigel in Gotha klagt sich bei seinem Herzog selbst des „Vollsaufens" an
und will deshalb das Amt aufgeben. Der Generalsuperintendent Agricola
muß sich von Luther maßloses Bierschwelgen vorwerfen lassen. Auch sonstige
Liederlichkeit und daneben die ungeheuerlichste Unwissenheit sind unter der
protestantischen Geistlichkeit jener Tage die Regel, bis bessere Zustände durch
die weltliche Obrigkeit und durch das Familienleben angebahnt werden. Dabei
ist die pecuniäre Lage der Pfarrer fast allenthalben eine erbärmliche, was
vom Verfasser durch Angabe in Betreff des Amtseinkommens derselben in
Sachsen, Thüringen und Hamburg dargethan wird. Schließlich erhalten wir
eine Zeichnung der berüchtigten Streittheologen der lutherischen Kirche mit
Stilproben aus ihren Schriften und Predigten und Stellen aus den Man¬
daten, die gegen diese wilden und unfläthigen Fanatiker ergingen. Der zweite
Abschnitt nennt sich „Fürsten und Fürstinnen", enthält aber wenig mehr als
Mittheilungen aus dem Leben des Kurfürsten Friedrich's des Frommen von
der Pfalz und der Familie, dieses guten, aber stets in Geldnoth steckenden
Herrn. Reicher wieder an interessanten Stellen ist das dritte Kapitel, das
unter der Ueberschrift „die Presse" Allerlei über den Büchermarkt des sech¬
zehnten Jahrhunderts, Meßkataloge, Censur, Preßproeesse, Confiscationen von
Schriften u. d. bringt, worunter der Proceß gegen das seiner Zeit berühmte
Spottgedicht „die Nachtigall", welches in Folge der Grumbach'schen Händel
entstand und unter andern Potentaten auch den heimtückischen, argwöhnischen
und rachsüchtigen Kurfürsten August (in den sächsischen Schulen lehrt man
ihn als „Vater August" verehren) zur Zielscheibe nahm, eine Hauptstelle ein¬
nimmt. Das vierte Kapitel endlich, das sich über das peinliche Recht von
damals verbreitet, bringt wenig Neues; denn sowohl die Hinrichtung Grum-
bach's und seiner Genossen, von keiner türkischen oder mongolischen Scheußlich¬
keit überboten, als andere hier angeführte Proben der Metzgerjustiz jener Zeit
sind nicht blos Geschichtschreibern, Juristen und andern Fachleuten bekannt.
Gut gesagt und als Moral des Buches hervorzuheben ist, was der Ver¬
sasser gegen den Schluß hin bemerkt: „Anders giebt sich ein Zeitalter, wenn
man nur seine Helden und ihre Thaten und Wirkungen auf die Nachwelt
mit dem Auge der Bewunderung beschaut, anders, wenn man Personen und
Zeiten nahe auf den Leib rückt und von den erhabenen „Gipfeln, auf welche
uns vorzugsweise die allgemeine Weltgeschichte stellt, herabsteigt in die Niede¬
rungen der gemeinen Wirklichkeit. Aber je tiefer der?,Schlamm und je trost¬
loser das Chaos, das da zum Vorschein kommt, um so größer und bewun-


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[0522] An der Hand einer Anzahl von Visitationsberichten über meißnische, leipziger, thüringische, nassauische und hessische Dorfpfarrer charakterisirt uns der Ver¬ fasser diesen Stand als damals über die Maßen verwildert. Die Pastoren zu Riesa und in dem benachbarten Grödel sind Schenkwirthe. Schloßprediger Seigel in Gotha klagt sich bei seinem Herzog selbst des „Vollsaufens" an und will deshalb das Amt aufgeben. Der Generalsuperintendent Agricola muß sich von Luther maßloses Bierschwelgen vorwerfen lassen. Auch sonstige Liederlichkeit und daneben die ungeheuerlichste Unwissenheit sind unter der protestantischen Geistlichkeit jener Tage die Regel, bis bessere Zustände durch die weltliche Obrigkeit und durch das Familienleben angebahnt werden. Dabei ist die pecuniäre Lage der Pfarrer fast allenthalben eine erbärmliche, was vom Verfasser durch Angabe in Betreff des Amtseinkommens derselben in Sachsen, Thüringen und Hamburg dargethan wird. Schließlich erhalten wir eine Zeichnung der berüchtigten Streittheologen der lutherischen Kirche mit Stilproben aus ihren Schriften und Predigten und Stellen aus den Man¬ daten, die gegen diese wilden und unfläthigen Fanatiker ergingen. Der zweite Abschnitt nennt sich „Fürsten und Fürstinnen", enthält aber wenig mehr als Mittheilungen aus dem Leben des Kurfürsten Friedrich's des Frommen von der Pfalz und der Familie, dieses guten, aber stets in Geldnoth steckenden Herrn. Reicher wieder an interessanten Stellen ist das dritte Kapitel, das unter der Ueberschrift „die Presse" Allerlei über den Büchermarkt des sech¬ zehnten Jahrhunderts, Meßkataloge, Censur, Preßproeesse, Confiscationen von Schriften u. d. bringt, worunter der Proceß gegen das seiner Zeit berühmte Spottgedicht „die Nachtigall", welches in Folge der Grumbach'schen Händel entstand und unter andern Potentaten auch den heimtückischen, argwöhnischen und rachsüchtigen Kurfürsten August (in den sächsischen Schulen lehrt man ihn als „Vater August" verehren) zur Zielscheibe nahm, eine Hauptstelle ein¬ nimmt. Das vierte Kapitel endlich, das sich über das peinliche Recht von damals verbreitet, bringt wenig Neues; denn sowohl die Hinrichtung Grum- bach's und seiner Genossen, von keiner türkischen oder mongolischen Scheußlich¬ keit überboten, als andere hier angeführte Proben der Metzgerjustiz jener Zeit sind nicht blos Geschichtschreibern, Juristen und andern Fachleuten bekannt. Gut gesagt und als Moral des Buches hervorzuheben ist, was der Ver¬ sasser gegen den Schluß hin bemerkt: „Anders giebt sich ein Zeitalter, wenn man nur seine Helden und ihre Thaten und Wirkungen auf die Nachwelt mit dem Auge der Bewunderung beschaut, anders, wenn man Personen und Zeiten nahe auf den Leib rückt und von den erhabenen „Gipfeln, auf welche uns vorzugsweise die allgemeine Weltgeschichte stellt, herabsteigt in die Niede¬ rungen der gemeinen Wirklichkeit. Aber je tiefer der?,Schlamm und je trost¬ loser das Chaos, das da zum Vorschein kommt, um so größer und bewun-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/522>, abgerufen am 22.07.2024.