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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Unseres Wissens hat das Buch überhaupt bis setzt noch gar keine wirkliche
Kritik erfahren. Ehe Spitta nach Berlin ging, beschränkte sich die Kritik
dem Buche gegenüber auf gutgemeinte Verhimmelungen und respectvolle Aus¬
züge. Erst seit Spitta an der Berliner Hochschule für Musik ist. hat sich
plötzlich eine dritte Sorte von Besprechungen hinzugesellt, die der nörgelnden,
neidischen Bekrittelung. Das höchste darin hat Reißmann in der vorliegenden
Schrift geleistet. Urnaiv gesteht er selber ein, daß er erst nach Spitta's Be¬
rufung sich veranlaßt gesehen habe, das Buch zur Hand zu nehmen, -- also
nachdem es bereits zwei Jahre vorlag -- natürlich nun nicht mehr, um etwa
daraus zu lernen, sondern eben nur, um sich ein paar Stellen herauszusuchen
und sie lächerlich zu machen. Mit richtigem Jnstinct also war der Dilettant
anfänglich dem wissenschaftlichen Werke fern geblieben, bis endlich das ein¬
gestandene unedle Motiv ihn veranlaßte, es vorzunehmen. Lediglich der
Dilettantismus, welcher sich in seiner Herrschaft gefährdet sieht, ist es, der
sich in Reißmann's Schrift gegen die emporkommende Wissenschaft aufbäumt.
Komisch -- oder sagen wir lieber tragisch? -- ist es dabei, zu sehen, wie
der Verfasser sich in seiner neidischen Verbitterung so weit verblendet, daß er
allen Ernstes sich felbst für den Vertreter der Wissenschaft hält und den
Dilettantismus auf der gegenüberstehenden Seite sucht.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hinter dem Verfasser dieser Schmäh¬
schrift eine ganze Meute neidischer Gesellen steht. Daß es ihm nur nicht er¬
geht, wie jenem unklugen Burschen, den eine Schaar ungerathener Jungen,
nachdem sie einen schlechten Streich verabredet hatten, zur Ausführung des¬
selben anstifteten. Als es dann ans Abbüßen ging, da riefen sie alle: "Wir
sind's nicht gewesen, der da ist es gewesen!" Die Zeit wird ganz gewiß
kommen, vielleicht sehr bald kommen, wo man auch in Berlin den Ruf ver¬
nehmen wird: "Wir sind's nicht gewesen, der Herr Dr. A. Reißmann ist es
* * * gewesen!"




Literatur.
Aus dem sechzehnten Jahrhundert. Culturgeschichtliche Skizzen von Robert
Calinich. Hamburg, W. Maule Söhne 1876.

Geschöpfe aus den Quellen, die nur dem Fachmann bekannt sind, bieten
diese Skizzen ein Stück Culturleben aus dem Zeitalter der Reformation. Von
den vier Abschnitten, in welche der Inhalt zerfällt, ist der erste, der uns ein
Bild von den damaligen Geistlichen entwirft, bei Weitem der interessanteste.


Grenzboten l. 1876. 65

Unseres Wissens hat das Buch überhaupt bis setzt noch gar keine wirkliche
Kritik erfahren. Ehe Spitta nach Berlin ging, beschränkte sich die Kritik
dem Buche gegenüber auf gutgemeinte Verhimmelungen und respectvolle Aus¬
züge. Erst seit Spitta an der Berliner Hochschule für Musik ist. hat sich
plötzlich eine dritte Sorte von Besprechungen hinzugesellt, die der nörgelnden,
neidischen Bekrittelung. Das höchste darin hat Reißmann in der vorliegenden
Schrift geleistet. Urnaiv gesteht er selber ein, daß er erst nach Spitta's Be¬
rufung sich veranlaßt gesehen habe, das Buch zur Hand zu nehmen, — also
nachdem es bereits zwei Jahre vorlag — natürlich nun nicht mehr, um etwa
daraus zu lernen, sondern eben nur, um sich ein paar Stellen herauszusuchen
und sie lächerlich zu machen. Mit richtigem Jnstinct also war der Dilettant
anfänglich dem wissenschaftlichen Werke fern geblieben, bis endlich das ein¬
gestandene unedle Motiv ihn veranlaßte, es vorzunehmen. Lediglich der
Dilettantismus, welcher sich in seiner Herrschaft gefährdet sieht, ist es, der
sich in Reißmann's Schrift gegen die emporkommende Wissenschaft aufbäumt.
Komisch — oder sagen wir lieber tragisch? — ist es dabei, zu sehen, wie
der Verfasser sich in seiner neidischen Verbitterung so weit verblendet, daß er
allen Ernstes sich felbst für den Vertreter der Wissenschaft hält und den
Dilettantismus auf der gegenüberstehenden Seite sucht.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hinter dem Verfasser dieser Schmäh¬
schrift eine ganze Meute neidischer Gesellen steht. Daß es ihm nur nicht er¬
geht, wie jenem unklugen Burschen, den eine Schaar ungerathener Jungen,
nachdem sie einen schlechten Streich verabredet hatten, zur Ausführung des¬
selben anstifteten. Als es dann ans Abbüßen ging, da riefen sie alle: „Wir
sind's nicht gewesen, der da ist es gewesen!" Die Zeit wird ganz gewiß
kommen, vielleicht sehr bald kommen, wo man auch in Berlin den Ruf ver¬
nehmen wird: „Wir sind's nicht gewesen, der Herr Dr. A. Reißmann ist es
* * * gewesen!"




Literatur.
Aus dem sechzehnten Jahrhundert. Culturgeschichtliche Skizzen von Robert
Calinich. Hamburg, W. Maule Söhne 1876.

Geschöpfe aus den Quellen, die nur dem Fachmann bekannt sind, bieten
diese Skizzen ein Stück Culturleben aus dem Zeitalter der Reformation. Von
den vier Abschnitten, in welche der Inhalt zerfällt, ist der erste, der uns ein
Bild von den damaligen Geistlichen entwirft, bei Weitem der interessanteste.


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[0521] Unseres Wissens hat das Buch überhaupt bis setzt noch gar keine wirkliche Kritik erfahren. Ehe Spitta nach Berlin ging, beschränkte sich die Kritik dem Buche gegenüber auf gutgemeinte Verhimmelungen und respectvolle Aus¬ züge. Erst seit Spitta an der Berliner Hochschule für Musik ist. hat sich plötzlich eine dritte Sorte von Besprechungen hinzugesellt, die der nörgelnden, neidischen Bekrittelung. Das höchste darin hat Reißmann in der vorliegenden Schrift geleistet. Urnaiv gesteht er selber ein, daß er erst nach Spitta's Be¬ rufung sich veranlaßt gesehen habe, das Buch zur Hand zu nehmen, — also nachdem es bereits zwei Jahre vorlag — natürlich nun nicht mehr, um etwa daraus zu lernen, sondern eben nur, um sich ein paar Stellen herauszusuchen und sie lächerlich zu machen. Mit richtigem Jnstinct also war der Dilettant anfänglich dem wissenschaftlichen Werke fern geblieben, bis endlich das ein¬ gestandene unedle Motiv ihn veranlaßte, es vorzunehmen. Lediglich der Dilettantismus, welcher sich in seiner Herrschaft gefährdet sieht, ist es, der sich in Reißmann's Schrift gegen die emporkommende Wissenschaft aufbäumt. Komisch — oder sagen wir lieber tragisch? — ist es dabei, zu sehen, wie der Verfasser sich in seiner neidischen Verbitterung so weit verblendet, daß er allen Ernstes sich felbst für den Vertreter der Wissenschaft hält und den Dilettantismus auf der gegenüberstehenden Seite sucht. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß hinter dem Verfasser dieser Schmäh¬ schrift eine ganze Meute neidischer Gesellen steht. Daß es ihm nur nicht er¬ geht, wie jenem unklugen Burschen, den eine Schaar ungerathener Jungen, nachdem sie einen schlechten Streich verabredet hatten, zur Ausführung des¬ selben anstifteten. Als es dann ans Abbüßen ging, da riefen sie alle: „Wir sind's nicht gewesen, der da ist es gewesen!" Die Zeit wird ganz gewiß kommen, vielleicht sehr bald kommen, wo man auch in Berlin den Ruf ver¬ nehmen wird: „Wir sind's nicht gewesen, der Herr Dr. A. Reißmann ist es * * * gewesen!" Literatur. Aus dem sechzehnten Jahrhundert. Culturgeschichtliche Skizzen von Robert Calinich. Hamburg, W. Maule Söhne 1876. Geschöpfe aus den Quellen, die nur dem Fachmann bekannt sind, bieten diese Skizzen ein Stück Culturleben aus dem Zeitalter der Reformation. Von den vier Abschnitten, in welche der Inhalt zerfällt, ist der erste, der uns ein Bild von den damaligen Geistlichen entwirft, bei Weitem der interessanteste. Grenzboten l. 1876. 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/521>, abgerufen am 22.07.2024.