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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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ferne, desto mehr gewinnt das buntbewegte Treiben ein pariserisch volksthüm-
liches Aussehen. Zuweilen kann man sich mitten in die harmloseste
deutsche Kleinstadt versetzt glauben, wenn man ganze Familien oder eine An¬
zahl guter Nachbarn auf den gemietheten Stühlen treulich im Kreise sitzen
und fröhlicher Plauderei pflegen sieht. In unsern großen Städten ist es
längst Sitte, daß der gute Bürger, wenn er des Abends überhaupt vor die
Thüre geht, mit Weib und Kind in eine Kneipe oder einen Biergarten zieht.
In dieser Weise ist den Franzosen und besonders dem Pariser das Kneipen¬
gehen ganz unbekannt. Man liebt es, den Abend im Theater zuzubringen,
der kleine Mann führt seine oourALvise auch wohl einmal ins <üg,tL ekan-
taut, aber das Wirthshaus aufzusuchen, um sich dort mit Weib und Kind
oder auch sonstigen Verwandten gemüthlich zu unterhalten, ist ihm ein schier
unfaßbarer Gedanke. Welcher gute Deutsche würde es übers Herz bringen,
nach heißem Tagewerk am lauen Sommerabend auf dem Boulevard zu sitzen,
hier ein Kaffeehaus, dort eine Brauerei u. s. w., und keinen Tropfen zu
trinken! Der Franzose scheint gar nicht daran zu denken. Er kann sogar
einen ganzen Abend in einem Concertgarten zubringen, ohne sich ein einziges
Mal auch nur die Lippen anzufeuchten. Wie könnte man sich bei uns einen
Concertgarten, und würde in ihm die klassischste Musik aufgeführt, anders vor¬
stellen, als mit zahllosen, womöglich gedeckten Tischen, beladen mit dem ganzen
Apparat, der zur Vertilgung eines "frugalen Abendbrodes" nothwendig, und
vor Allem mit recht viel des Trankes, von dem der deutsche Student singt:
"Seh' ich ein braun Bier, ha welch' ein Vergnügen, da thu' ich vor Freuden
die Mütze abziegen!" Wie entsetzlich kahl und nüchtern nimmt sich dagegen das
berühmte Loneert ach Onamps ZZI^heff aus! Die Stühle in Reihen gestellt,
wie im regelrechten Concertsaal, und statt des Klirrens der Gläser höchstens das
Knistern des Kieses unter den Tritten melancholischer Spaziergänger. Wahr¬
haftig, es bedürfte nicht erst der für das Rennome dieses Gartens herzlich
mittelmäßigen musikalischen Leistungen, um ein deutsches Gemüth gar bald
wieder von dannen zu treiben; mitten im Sommer beschleicht Einen in dieser
reizlosen Stätte ein leises Frösteln. --

Es ist wahr, die Poesie des Trinkens ist den Franzosen versagt. Ob sie
darum zu beklagen sind, wird ein Deutscher, da er in der Frage Partei ist,
sich nicht vermessen, zu entscheiden. Immerhin dünkt mir, daß ihr Familien¬
leben sich nicht schlecht dabei steht. Freilich, der reiche und vornehme Mann
besucht seinen Club, der mittlere Bürger sein Cafe, um Billard oder Karten
zu spielen; der Arbeiter erlabt sich am Absynth. Aber ganz abgesehen davon,
daß dabei das Kneipen fast niemals Selbstzweck ist, handelt es sich hier auch
keineswegs um eine so allgemeine Sitte, wie sie der Bierhausbesuch in Deutsch¬
land nun einmal ist. Im Allgemeinen darf man dreist sagen, daß in Frank-


ferne, desto mehr gewinnt das buntbewegte Treiben ein pariserisch volksthüm-
liches Aussehen. Zuweilen kann man sich mitten in die harmloseste
deutsche Kleinstadt versetzt glauben, wenn man ganze Familien oder eine An¬
zahl guter Nachbarn auf den gemietheten Stühlen treulich im Kreise sitzen
und fröhlicher Plauderei pflegen sieht. In unsern großen Städten ist es
längst Sitte, daß der gute Bürger, wenn er des Abends überhaupt vor die
Thüre geht, mit Weib und Kind in eine Kneipe oder einen Biergarten zieht.
In dieser Weise ist den Franzosen und besonders dem Pariser das Kneipen¬
gehen ganz unbekannt. Man liebt es, den Abend im Theater zuzubringen,
der kleine Mann führt seine oourALvise auch wohl einmal ins <üg,tL ekan-
taut, aber das Wirthshaus aufzusuchen, um sich dort mit Weib und Kind
oder auch sonstigen Verwandten gemüthlich zu unterhalten, ist ihm ein schier
unfaßbarer Gedanke. Welcher gute Deutsche würde es übers Herz bringen,
nach heißem Tagewerk am lauen Sommerabend auf dem Boulevard zu sitzen,
hier ein Kaffeehaus, dort eine Brauerei u. s. w., und keinen Tropfen zu
trinken! Der Franzose scheint gar nicht daran zu denken. Er kann sogar
einen ganzen Abend in einem Concertgarten zubringen, ohne sich ein einziges
Mal auch nur die Lippen anzufeuchten. Wie könnte man sich bei uns einen
Concertgarten, und würde in ihm die klassischste Musik aufgeführt, anders vor¬
stellen, als mit zahllosen, womöglich gedeckten Tischen, beladen mit dem ganzen
Apparat, der zur Vertilgung eines „frugalen Abendbrodes" nothwendig, und
vor Allem mit recht viel des Trankes, von dem der deutsche Student singt:
„Seh' ich ein braun Bier, ha welch' ein Vergnügen, da thu' ich vor Freuden
die Mütze abziegen!" Wie entsetzlich kahl und nüchtern nimmt sich dagegen das
berühmte Loneert ach Onamps ZZI^heff aus! Die Stühle in Reihen gestellt,
wie im regelrechten Concertsaal, und statt des Klirrens der Gläser höchstens das
Knistern des Kieses unter den Tritten melancholischer Spaziergänger. Wahr¬
haftig, es bedürfte nicht erst der für das Rennome dieses Gartens herzlich
mittelmäßigen musikalischen Leistungen, um ein deutsches Gemüth gar bald
wieder von dannen zu treiben; mitten im Sommer beschleicht Einen in dieser
reizlosen Stätte ein leises Frösteln. —

Es ist wahr, die Poesie des Trinkens ist den Franzosen versagt. Ob sie
darum zu beklagen sind, wird ein Deutscher, da er in der Frage Partei ist,
sich nicht vermessen, zu entscheiden. Immerhin dünkt mir, daß ihr Familien¬
leben sich nicht schlecht dabei steht. Freilich, der reiche und vornehme Mann
besucht seinen Club, der mittlere Bürger sein Cafe, um Billard oder Karten
zu spielen; der Arbeiter erlabt sich am Absynth. Aber ganz abgesehen davon,
daß dabei das Kneipen fast niemals Selbstzweck ist, handelt es sich hier auch
keineswegs um eine so allgemeine Sitte, wie sie der Bierhausbesuch in Deutsch¬
land nun einmal ist. Im Allgemeinen darf man dreist sagen, daß in Frank-


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[0442] ferne, desto mehr gewinnt das buntbewegte Treiben ein pariserisch volksthüm- liches Aussehen. Zuweilen kann man sich mitten in die harmloseste deutsche Kleinstadt versetzt glauben, wenn man ganze Familien oder eine An¬ zahl guter Nachbarn auf den gemietheten Stühlen treulich im Kreise sitzen und fröhlicher Plauderei pflegen sieht. In unsern großen Städten ist es längst Sitte, daß der gute Bürger, wenn er des Abends überhaupt vor die Thüre geht, mit Weib und Kind in eine Kneipe oder einen Biergarten zieht. In dieser Weise ist den Franzosen und besonders dem Pariser das Kneipen¬ gehen ganz unbekannt. Man liebt es, den Abend im Theater zuzubringen, der kleine Mann führt seine oourALvise auch wohl einmal ins <üg,tL ekan- taut, aber das Wirthshaus aufzusuchen, um sich dort mit Weib und Kind oder auch sonstigen Verwandten gemüthlich zu unterhalten, ist ihm ein schier unfaßbarer Gedanke. Welcher gute Deutsche würde es übers Herz bringen, nach heißem Tagewerk am lauen Sommerabend auf dem Boulevard zu sitzen, hier ein Kaffeehaus, dort eine Brauerei u. s. w., und keinen Tropfen zu trinken! Der Franzose scheint gar nicht daran zu denken. Er kann sogar einen ganzen Abend in einem Concertgarten zubringen, ohne sich ein einziges Mal auch nur die Lippen anzufeuchten. Wie könnte man sich bei uns einen Concertgarten, und würde in ihm die klassischste Musik aufgeführt, anders vor¬ stellen, als mit zahllosen, womöglich gedeckten Tischen, beladen mit dem ganzen Apparat, der zur Vertilgung eines „frugalen Abendbrodes" nothwendig, und vor Allem mit recht viel des Trankes, von dem der deutsche Student singt: „Seh' ich ein braun Bier, ha welch' ein Vergnügen, da thu' ich vor Freuden die Mütze abziegen!" Wie entsetzlich kahl und nüchtern nimmt sich dagegen das berühmte Loneert ach Onamps ZZI^heff aus! Die Stühle in Reihen gestellt, wie im regelrechten Concertsaal, und statt des Klirrens der Gläser höchstens das Knistern des Kieses unter den Tritten melancholischer Spaziergänger. Wahr¬ haftig, es bedürfte nicht erst der für das Rennome dieses Gartens herzlich mittelmäßigen musikalischen Leistungen, um ein deutsches Gemüth gar bald wieder von dannen zu treiben; mitten im Sommer beschleicht Einen in dieser reizlosen Stätte ein leises Frösteln. — Es ist wahr, die Poesie des Trinkens ist den Franzosen versagt. Ob sie darum zu beklagen sind, wird ein Deutscher, da er in der Frage Partei ist, sich nicht vermessen, zu entscheiden. Immerhin dünkt mir, daß ihr Familien¬ leben sich nicht schlecht dabei steht. Freilich, der reiche und vornehme Mann besucht seinen Club, der mittlere Bürger sein Cafe, um Billard oder Karten zu spielen; der Arbeiter erlabt sich am Absynth. Aber ganz abgesehen davon, daß dabei das Kneipen fast niemals Selbstzweck ist, handelt es sich hier auch keineswegs um eine so allgemeine Sitte, wie sie der Bierhausbesuch in Deutsch¬ land nun einmal ist. Im Allgemeinen darf man dreist sagen, daß in Frank-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/442>, abgerufen am 24.08.2024.