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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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gewinnet durcheinander wogt. Es liegt ja im Wesen jeder Großstadt, daß
man mitten in dem lärmenden Treiben doch ein Gefühl seltsamer Behaglich¬
keit empfindet; man weiß sich eben sicher vor jener Fraubasengesellschaft, deren
spähende Blicke selbst den frömmsten Bürger auf Schritt und Tritt verfolgen;
auch lebt man nicht in beständiger Sorge, daß im nächsten Augenblicke Herr
Doctor Dingsda oder Frau Geheimrath Soundso vorübergeht und bis in den
Tod beleidigt wird, wenn man die pflichtschuldige Reverenz versäumt. Aber
nirgends hat der Zustand der Unbekümmertheit um den Andern so sehr das
Gepräge der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, wie in Paris. Ich kenne
Städte, und zwar sehr große, wo der Vorübergehende meint, uns durch finstern
Blick und ein gewisses Aplomb des Auftretens noch besonders einschärfen zu
müssen, daß ihm an uns absolut gar nichts gelegen ist. Da eben steckt der
Unterschied; daraus erklärt sich die abstoßende Steifheit unserer nordischen
Großstädte, gegen welche die liebenswürdige Nonchalance des Pariser Straßen¬
lebens so wohlthuend absticht. Was Wunder, wenn Einem in dieser Um¬
gebung das Gefühl des Fremdseins vollständig unbekannt bleibt! Viel trägt
dazu freilich die ganze Einrichtung der Boulevards bei. In der schöneren
Jahreszeit gleichen sie ja weniger einer Anlage, die man als Mittel zur Fort¬
bewegung benutzt, sondern der Aufenthalt auf ihnen ist Selbstzweck, sie sind
weniger Straße, als öffentlicher Garten, el.n Garten indeß, in welchem man
in ungestörtem Behagen seinen Mokka schlürft und dennoch die brausenden
Wogen des großen Verkehrs unmittelbar vor seinen Augen vorüberrollen
sieht. Glänzende Boulevards hat man ja auch anderwärts, aber entweder
liegen sie öde, oder sie sind bloße Paradepromenaden. In Paris dagegen, wo
sie die belebtesten und geschäftsreichsten Stadttheile quer durchschneiden, öffnen
sie uns den Blick unmittelbar in das Herz des weltstädtischen Treibens.
Nicht eine Gesellschaft geputzter Spaziergänger ist es, die hier aneinander
vorüberzieht, nein es ist ein Stück wahren ungekünstelten Volkslebens, das sich
vor den Augen des Beobachters abspielt. Freilich ist kein Mangel an elegan¬
ten Toiletten, an bemalten Damen und verschrobenen Stutzern, aber da¬
zwischen schreitet behaglich der gesittete Bürger, um die Mittagszeit auch der
Arbeitsmann und jenes zierliche Wesen, das, weil es, sehr im Unterschiede
von seinen Schwestern in unseren deutschen Städten, im bloßen Kopf, ohne
den bei uns beliebten prahlerischer Federhut, und in einfacher geschmackvoller
Kleidung die Straßen passtrt, dem Gesammtbilde noch einen ganz eigenthüm¬
lichen Zug einfügt: die Buchhalterin, die Verkäuferin, die Handschuhmacherin,
die Stickerin, kurz, um den echt deutschen Collectivnamen zu gebrauchen, die "kleine
Confectionneuse". Vollends erst am Abend zeigt sich dieser Charakter der Boule¬
vards deutlich ausgeprägt; namentlich je weiter man sich von den elegantesten
Theilen, dem Lvnlevarä des eaxuei'mzs und dem Loulevarü ach Italiens ent-


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gewinnet durcheinander wogt. Es liegt ja im Wesen jeder Großstadt, daß
man mitten in dem lärmenden Treiben doch ein Gefühl seltsamer Behaglich¬
keit empfindet; man weiß sich eben sicher vor jener Fraubasengesellschaft, deren
spähende Blicke selbst den frömmsten Bürger auf Schritt und Tritt verfolgen;
auch lebt man nicht in beständiger Sorge, daß im nächsten Augenblicke Herr
Doctor Dingsda oder Frau Geheimrath Soundso vorübergeht und bis in den
Tod beleidigt wird, wenn man die pflichtschuldige Reverenz versäumt. Aber
nirgends hat der Zustand der Unbekümmertheit um den Andern so sehr das
Gepräge der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, wie in Paris. Ich kenne
Städte, und zwar sehr große, wo der Vorübergehende meint, uns durch finstern
Blick und ein gewisses Aplomb des Auftretens noch besonders einschärfen zu
müssen, daß ihm an uns absolut gar nichts gelegen ist. Da eben steckt der
Unterschied; daraus erklärt sich die abstoßende Steifheit unserer nordischen
Großstädte, gegen welche die liebenswürdige Nonchalance des Pariser Straßen¬
lebens so wohlthuend absticht. Was Wunder, wenn Einem in dieser Um¬
gebung das Gefühl des Fremdseins vollständig unbekannt bleibt! Viel trägt
dazu freilich die ganze Einrichtung der Boulevards bei. In der schöneren
Jahreszeit gleichen sie ja weniger einer Anlage, die man als Mittel zur Fort¬
bewegung benutzt, sondern der Aufenthalt auf ihnen ist Selbstzweck, sie sind
weniger Straße, als öffentlicher Garten, el.n Garten indeß, in welchem man
in ungestörtem Behagen seinen Mokka schlürft und dennoch die brausenden
Wogen des großen Verkehrs unmittelbar vor seinen Augen vorüberrollen
sieht. Glänzende Boulevards hat man ja auch anderwärts, aber entweder
liegen sie öde, oder sie sind bloße Paradepromenaden. In Paris dagegen, wo
sie die belebtesten und geschäftsreichsten Stadttheile quer durchschneiden, öffnen
sie uns den Blick unmittelbar in das Herz des weltstädtischen Treibens.
Nicht eine Gesellschaft geputzter Spaziergänger ist es, die hier aneinander
vorüberzieht, nein es ist ein Stück wahren ungekünstelten Volkslebens, das sich
vor den Augen des Beobachters abspielt. Freilich ist kein Mangel an elegan¬
ten Toiletten, an bemalten Damen und verschrobenen Stutzern, aber da¬
zwischen schreitet behaglich der gesittete Bürger, um die Mittagszeit auch der
Arbeitsmann und jenes zierliche Wesen, das, weil es, sehr im Unterschiede
von seinen Schwestern in unseren deutschen Städten, im bloßen Kopf, ohne
den bei uns beliebten prahlerischer Federhut, und in einfacher geschmackvoller
Kleidung die Straßen passtrt, dem Gesammtbilde noch einen ganz eigenthüm¬
lichen Zug einfügt: die Buchhalterin, die Verkäuferin, die Handschuhmacherin,
die Stickerin, kurz, um den echt deutschen Collectivnamen zu gebrauchen, die „kleine
Confectionneuse". Vollends erst am Abend zeigt sich dieser Charakter der Boule¬
vards deutlich ausgeprägt; namentlich je weiter man sich von den elegantesten
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[0441] gewinnet durcheinander wogt. Es liegt ja im Wesen jeder Großstadt, daß man mitten in dem lärmenden Treiben doch ein Gefühl seltsamer Behaglich¬ keit empfindet; man weiß sich eben sicher vor jener Fraubasengesellschaft, deren spähende Blicke selbst den frömmsten Bürger auf Schritt und Tritt verfolgen; auch lebt man nicht in beständiger Sorge, daß im nächsten Augenblicke Herr Doctor Dingsda oder Frau Geheimrath Soundso vorübergeht und bis in den Tod beleidigt wird, wenn man die pflichtschuldige Reverenz versäumt. Aber nirgends hat der Zustand der Unbekümmertheit um den Andern so sehr das Gepräge der Natürlichkeit und Unmittelbarkeit, wie in Paris. Ich kenne Städte, und zwar sehr große, wo der Vorübergehende meint, uns durch finstern Blick und ein gewisses Aplomb des Auftretens noch besonders einschärfen zu müssen, daß ihm an uns absolut gar nichts gelegen ist. Da eben steckt der Unterschied; daraus erklärt sich die abstoßende Steifheit unserer nordischen Großstädte, gegen welche die liebenswürdige Nonchalance des Pariser Straßen¬ lebens so wohlthuend absticht. Was Wunder, wenn Einem in dieser Um¬ gebung das Gefühl des Fremdseins vollständig unbekannt bleibt! Viel trägt dazu freilich die ganze Einrichtung der Boulevards bei. In der schöneren Jahreszeit gleichen sie ja weniger einer Anlage, die man als Mittel zur Fort¬ bewegung benutzt, sondern der Aufenthalt auf ihnen ist Selbstzweck, sie sind weniger Straße, als öffentlicher Garten, el.n Garten indeß, in welchem man in ungestörtem Behagen seinen Mokka schlürft und dennoch die brausenden Wogen des großen Verkehrs unmittelbar vor seinen Augen vorüberrollen sieht. Glänzende Boulevards hat man ja auch anderwärts, aber entweder liegen sie öde, oder sie sind bloße Paradepromenaden. In Paris dagegen, wo sie die belebtesten und geschäftsreichsten Stadttheile quer durchschneiden, öffnen sie uns den Blick unmittelbar in das Herz des weltstädtischen Treibens. Nicht eine Gesellschaft geputzter Spaziergänger ist es, die hier aneinander vorüberzieht, nein es ist ein Stück wahren ungekünstelten Volkslebens, das sich vor den Augen des Beobachters abspielt. Freilich ist kein Mangel an elegan¬ ten Toiletten, an bemalten Damen und verschrobenen Stutzern, aber da¬ zwischen schreitet behaglich der gesittete Bürger, um die Mittagszeit auch der Arbeitsmann und jenes zierliche Wesen, das, weil es, sehr im Unterschiede von seinen Schwestern in unseren deutschen Städten, im bloßen Kopf, ohne den bei uns beliebten prahlerischer Federhut, und in einfacher geschmackvoller Kleidung die Straßen passtrt, dem Gesammtbilde noch einen ganz eigenthüm¬ lichen Zug einfügt: die Buchhalterin, die Verkäuferin, die Handschuhmacherin, die Stickerin, kurz, um den echt deutschen Collectivnamen zu gebrauchen, die „kleine Confectionneuse". Vollends erst am Abend zeigt sich dieser Charakter der Boule¬ vards deutlich ausgeprägt; namentlich je weiter man sich von den elegantesten Theilen, dem Lvnlevarä des eaxuei'mzs und dem Loulevarü ach Italiens ent- Grenzboten I. 1d7t>. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/441>, abgerufen am 22.07.2024.