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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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verdrängt. Wenn Herr Hänel etwas mehr in der praktischen Jurisprudenz
Bescheid wüßte, so könnte er sich erinnern, daß in mehr als einem deutschen
Staat kürzlich noch der Landesherr als summus episeoMS auf dem Wege
der Gnade die Ehen scheiden konnte, welche das Consistorium in Ermangelung
schriftgemäßer Scheidungsgründe nicht scheiden durfte. Herr Hänel meinte
aber, die vorliegende Kirchenverfassung führe den landesherrlichen Summepi-
scopat zum ersten Mal in die kirchliche Praxis ein und zwar mit einer ähn¬
lichen Macht, wie der Papst über das innere Leben der Gläubigen übt.
Gegen solche Unkenntniß der elementaren Natur des Gegenstandes ist wirklich
nichts zu sagen.

Herr Hänel theilt vollständig die Virchow'sche Anschauung, daß die Kirche
keine Befugniß haben soll zur Feststellung der Glaubenslehre, womit freilich
der Begriff einer Kirche überhaupt aufhört. Denn die Kirche ist eine Ge¬
meinschaft solcher, die denselben Glauben suchen aus der Einheit eines historisch
bewährten Lehrgrundes. Der Glaube ist eine That, die nur lebendig bleibt,
indem sie sich beständig in jedem Einzelnen erneut. Aber es wäre traurig um
die Menschheit bestellt, wenn deshalb jedes Individuum einen Glauben apart
für sich haben müßte. Weil die Herren, die von Religion und Glauben so
viel wissen, wie der Blinde von der Farbe, sich gedrungen fühlten, über diese
Gegenstände zu sprechen, deshalb kamen so wunderliche Dinge zum Vorschein,
wie wir sie am 26. und 28. Februar hören mußten. Herr Hänel entsetzte
sich, ganz wie Herr Virchow, vor der Möglichkeit, daß die Kirche ein Be¬
kenntniß aufstellen könnte, was sie bekanntlich schon seit mehr als 1000
Jahren gethan hat. Und nicht bloß einmal hat die Kirche ein Bekenntniß
aufgestellt, das Wesen der Kirche besteht vielmehr in der Erneuerung und
Entwickelung des Bekenntnisses, eine Entwickelung, welche die katholische Kirche
auf ihrer Art in organischer Weise erreicht, während die evangelische Kirche
sie bisher zu ihrem Schaden nur in unorganischer, subjectiver Weise erreichen
konnte. Herr Hänel sprach nun unmittelbar hintereinander folgende wider¬
sprechenden Sätze aus: Zum Begriff der Kirche gehört ein bestimmtes Be¬
kenntniß, aber die Kirche kann kein Bekenntniß durch ihre Organe schaffen,
sondern dies können nur die einzelnen Gläubigen thun. -- Dann giebt es
aber eben keine Kirche. dann kann es nur ganz ephemere Verbindungen ein¬
zelner Häuflein von Gläubigen geben, die sich heute zusammenfinden, während
morgen jeder Einzelne aus solchem Häuflein sich wieder in einer andern
Verbindung befindet. Das Wahre ist jedoch, daß die Kirche durch ver¬
fassungsmäßige Organe ihren Lehrgrund bewahrt und entwickelt, welcher
Entwickelung die individuelle Glaubensbildung oscillirend nachfolgt, wie es
in jeder geistig lebendigen Gemeinschaft ist. Denn jede solche Gemeinschaft
ist das Angezogenwerden von einem einheitlichen Mittelpunkt und das


verdrängt. Wenn Herr Hänel etwas mehr in der praktischen Jurisprudenz
Bescheid wüßte, so könnte er sich erinnern, daß in mehr als einem deutschen
Staat kürzlich noch der Landesherr als summus episeoMS auf dem Wege
der Gnade die Ehen scheiden konnte, welche das Consistorium in Ermangelung
schriftgemäßer Scheidungsgründe nicht scheiden durfte. Herr Hänel meinte
aber, die vorliegende Kirchenverfassung führe den landesherrlichen Summepi-
scopat zum ersten Mal in die kirchliche Praxis ein und zwar mit einer ähn¬
lichen Macht, wie der Papst über das innere Leben der Gläubigen übt.
Gegen solche Unkenntniß der elementaren Natur des Gegenstandes ist wirklich
nichts zu sagen.

Herr Hänel theilt vollständig die Virchow'sche Anschauung, daß die Kirche
keine Befugniß haben soll zur Feststellung der Glaubenslehre, womit freilich
der Begriff einer Kirche überhaupt aufhört. Denn die Kirche ist eine Ge¬
meinschaft solcher, die denselben Glauben suchen aus der Einheit eines historisch
bewährten Lehrgrundes. Der Glaube ist eine That, die nur lebendig bleibt,
indem sie sich beständig in jedem Einzelnen erneut. Aber es wäre traurig um
die Menschheit bestellt, wenn deshalb jedes Individuum einen Glauben apart
für sich haben müßte. Weil die Herren, die von Religion und Glauben so
viel wissen, wie der Blinde von der Farbe, sich gedrungen fühlten, über diese
Gegenstände zu sprechen, deshalb kamen so wunderliche Dinge zum Vorschein,
wie wir sie am 26. und 28. Februar hören mußten. Herr Hänel entsetzte
sich, ganz wie Herr Virchow, vor der Möglichkeit, daß die Kirche ein Be¬
kenntniß aufstellen könnte, was sie bekanntlich schon seit mehr als 1000
Jahren gethan hat. Und nicht bloß einmal hat die Kirche ein Bekenntniß
aufgestellt, das Wesen der Kirche besteht vielmehr in der Erneuerung und
Entwickelung des Bekenntnisses, eine Entwickelung, welche die katholische Kirche
auf ihrer Art in organischer Weise erreicht, während die evangelische Kirche
sie bisher zu ihrem Schaden nur in unorganischer, subjectiver Weise erreichen
konnte. Herr Hänel sprach nun unmittelbar hintereinander folgende wider¬
sprechenden Sätze aus: Zum Begriff der Kirche gehört ein bestimmtes Be¬
kenntniß, aber die Kirche kann kein Bekenntniß durch ihre Organe schaffen,
sondern dies können nur die einzelnen Gläubigen thun. — Dann giebt es
aber eben keine Kirche. dann kann es nur ganz ephemere Verbindungen ein¬
zelner Häuflein von Gläubigen geben, die sich heute zusammenfinden, während
morgen jeder Einzelne aus solchem Häuflein sich wieder in einer andern
Verbindung befindet. Das Wahre ist jedoch, daß die Kirche durch ver¬
fassungsmäßige Organe ihren Lehrgrund bewahrt und entwickelt, welcher
Entwickelung die individuelle Glaubensbildung oscillirend nachfolgt, wie es
in jeder geistig lebendigen Gemeinschaft ist. Denn jede solche Gemeinschaft
ist das Angezogenwerden von einem einheitlichen Mittelpunkt und das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/438>, abgerufen am 22.07.2024.