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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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nämlich zweierlei vertheidigen, erstens die Regierung gegen den Vorwurf, daß
sie die letzte Entscheidung über die Einschätzung an die Organe der Selbst¬
verwaltung abgegeben; und zweitens diese Organe gegen den Vorwurf, daß
sie sich nicht zu Werkzeugen der Negierung gebrauchen ließen. Wenn nun
aber doch zu hohe Einschätzungen durch "unselbständige, gewissenlose Personen"
vorkommen sollten, so muß man doch fragen, an wen diese Personen ihre
Selbständigkeit veräußern, und ob diese Vorkommnisse, wenn sie beglaubigt
wären, was der Redner allerdings in Zweifel zog, nicht zu Ungunsten der
Selbstverwaltung sprechen müßten. Unsrerseits bezweifeln wir mit dem
Redner das erhebliche Vorkommen solcher Handlungsweise und glauben, daß
die Einschätzungscommissionen im Ganzen umsichtig und gewissenhaft arbeiten.
Der Protest gegen vorgebrachte oder behauptete Thatsachen, nicht auf Grund
angestellter Untersuchung, sondern lediglich auf Grund der Mündigkeit des
Volkes als unbezweifelbaren Dogma, kann jedoch offenbar nicht verfangen.

In derselben Sitzung erneuerte die vereinigte Opposition des Centrums
und des Fortschritts ihren schon oft gemachten Versuch, den Dispositionsfonds
des Staatsministeriums für allgemeine politische Zwecke, jene durch die Win¬
zigkeit der Summe fast lächerlichen 31,000 Thaler, zu verweigern. Der Ver¬
such gelang nicht, aber der Anlaß ist zu erwünscht, sich gegen die officiöse
Presse zu ergehen. Solche Angriffe müssen mit Phlegma und gesundem
Menschenverstand abgewehrt werden, welche guten Dinge dem Minister des
Innern glücklicherweise zu Gebote stehen. Auf die lächerliche Klage als
Opposition, Geld bewilligen zu sollen, um mittelst desselben in der Presse an¬
gegriffen zu werden, antwortete der Minister mit ergötzlicher Trockenheit: die
halbamtliche Presse habe nach Objectivität zu streben, aber dazu gehöre nicht,
Alles zu loben, was in den Parlamenten vorgeht. Man kann nicht nüchterner
und unwidersprechlicher antworten. Ebenso nüchtern antwortete er auf die
fortschrittliche Insinuation, daß Herr v. Schweitzer als Präsident der Social¬
demokratie Regierungsagent gewesen, damit, daß die Socialdemokratie, wenn
ein Führer von einem Theil der Partei gestürzt werden soll, regelmäßig da¬
hin belehrt wird, der zu stürzende sei Regierungsagent. Die 31,000 Thaler
wurden schließlich in namentlicher Abstimmung mit 173 gegen 131 Stimmen,
hauptsächlich Stimmen der Fortschrittspartei und des Centrums bewilligt,
aber die Opposition hatte ihrem Herzen genügt. Wenn man mit dem Staat
experimentiren dürfte, so wäre ein Fortschrittsministerium sehr wünschenswert!),
um eine Regierung zu sehen, die nach dem jetzigen Verlangen der Fortschritts¬
partei nur durch die Güte ihrer Maßregeln, ohne dieselben jemals in der
Presse vertheidigen zu lassen, die öffentliche Meinung auf ihrer Seite behält,
und die zweitens, wenn sie sich doch vertheidigt, es immer so thut, daß der
Gegner angenehm davon berührt Ist. Wenn der Reichskanzler richtig prophe-


nämlich zweierlei vertheidigen, erstens die Regierung gegen den Vorwurf, daß
sie die letzte Entscheidung über die Einschätzung an die Organe der Selbst¬
verwaltung abgegeben; und zweitens diese Organe gegen den Vorwurf, daß
sie sich nicht zu Werkzeugen der Negierung gebrauchen ließen. Wenn nun
aber doch zu hohe Einschätzungen durch „unselbständige, gewissenlose Personen"
vorkommen sollten, so muß man doch fragen, an wen diese Personen ihre
Selbständigkeit veräußern, und ob diese Vorkommnisse, wenn sie beglaubigt
wären, was der Redner allerdings in Zweifel zog, nicht zu Ungunsten der
Selbstverwaltung sprechen müßten. Unsrerseits bezweifeln wir mit dem
Redner das erhebliche Vorkommen solcher Handlungsweise und glauben, daß
die Einschätzungscommissionen im Ganzen umsichtig und gewissenhaft arbeiten.
Der Protest gegen vorgebrachte oder behauptete Thatsachen, nicht auf Grund
angestellter Untersuchung, sondern lediglich auf Grund der Mündigkeit des
Volkes als unbezweifelbaren Dogma, kann jedoch offenbar nicht verfangen.

In derselben Sitzung erneuerte die vereinigte Opposition des Centrums
und des Fortschritts ihren schon oft gemachten Versuch, den Dispositionsfonds
des Staatsministeriums für allgemeine politische Zwecke, jene durch die Win¬
zigkeit der Summe fast lächerlichen 31,000 Thaler, zu verweigern. Der Ver¬
such gelang nicht, aber der Anlaß ist zu erwünscht, sich gegen die officiöse
Presse zu ergehen. Solche Angriffe müssen mit Phlegma und gesundem
Menschenverstand abgewehrt werden, welche guten Dinge dem Minister des
Innern glücklicherweise zu Gebote stehen. Auf die lächerliche Klage als
Opposition, Geld bewilligen zu sollen, um mittelst desselben in der Presse an¬
gegriffen zu werden, antwortete der Minister mit ergötzlicher Trockenheit: die
halbamtliche Presse habe nach Objectivität zu streben, aber dazu gehöre nicht,
Alles zu loben, was in den Parlamenten vorgeht. Man kann nicht nüchterner
und unwidersprechlicher antworten. Ebenso nüchtern antwortete er auf die
fortschrittliche Insinuation, daß Herr v. Schweitzer als Präsident der Social¬
demokratie Regierungsagent gewesen, damit, daß die Socialdemokratie, wenn
ein Führer von einem Theil der Partei gestürzt werden soll, regelmäßig da¬
hin belehrt wird, der zu stürzende sei Regierungsagent. Die 31,000 Thaler
wurden schließlich in namentlicher Abstimmung mit 173 gegen 131 Stimmen,
hauptsächlich Stimmen der Fortschrittspartei und des Centrums bewilligt,
aber die Opposition hatte ihrem Herzen genügt. Wenn man mit dem Staat
experimentiren dürfte, so wäre ein Fortschrittsministerium sehr wünschenswert!),
um eine Regierung zu sehen, die nach dem jetzigen Verlangen der Fortschritts¬
partei nur durch die Güte ihrer Maßregeln, ohne dieselben jemals in der
Presse vertheidigen zu lassen, die öffentliche Meinung auf ihrer Seite behält,
und die zweitens, wenn sie sich doch vertheidigt, es immer so thut, daß der
Gegner angenehm davon berührt Ist. Wenn der Reichskanzler richtig prophe-


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[0365] nämlich zweierlei vertheidigen, erstens die Regierung gegen den Vorwurf, daß sie die letzte Entscheidung über die Einschätzung an die Organe der Selbst¬ verwaltung abgegeben; und zweitens diese Organe gegen den Vorwurf, daß sie sich nicht zu Werkzeugen der Negierung gebrauchen ließen. Wenn nun aber doch zu hohe Einschätzungen durch „unselbständige, gewissenlose Personen" vorkommen sollten, so muß man doch fragen, an wen diese Personen ihre Selbständigkeit veräußern, und ob diese Vorkommnisse, wenn sie beglaubigt wären, was der Redner allerdings in Zweifel zog, nicht zu Ungunsten der Selbstverwaltung sprechen müßten. Unsrerseits bezweifeln wir mit dem Redner das erhebliche Vorkommen solcher Handlungsweise und glauben, daß die Einschätzungscommissionen im Ganzen umsichtig und gewissenhaft arbeiten. Der Protest gegen vorgebrachte oder behauptete Thatsachen, nicht auf Grund angestellter Untersuchung, sondern lediglich auf Grund der Mündigkeit des Volkes als unbezweifelbaren Dogma, kann jedoch offenbar nicht verfangen. In derselben Sitzung erneuerte die vereinigte Opposition des Centrums und des Fortschritts ihren schon oft gemachten Versuch, den Dispositionsfonds des Staatsministeriums für allgemeine politische Zwecke, jene durch die Win¬ zigkeit der Summe fast lächerlichen 31,000 Thaler, zu verweigern. Der Ver¬ such gelang nicht, aber der Anlaß ist zu erwünscht, sich gegen die officiöse Presse zu ergehen. Solche Angriffe müssen mit Phlegma und gesundem Menschenverstand abgewehrt werden, welche guten Dinge dem Minister des Innern glücklicherweise zu Gebote stehen. Auf die lächerliche Klage als Opposition, Geld bewilligen zu sollen, um mittelst desselben in der Presse an¬ gegriffen zu werden, antwortete der Minister mit ergötzlicher Trockenheit: die halbamtliche Presse habe nach Objectivität zu streben, aber dazu gehöre nicht, Alles zu loben, was in den Parlamenten vorgeht. Man kann nicht nüchterner und unwidersprechlicher antworten. Ebenso nüchtern antwortete er auf die fortschrittliche Insinuation, daß Herr v. Schweitzer als Präsident der Social¬ demokratie Regierungsagent gewesen, damit, daß die Socialdemokratie, wenn ein Führer von einem Theil der Partei gestürzt werden soll, regelmäßig da¬ hin belehrt wird, der zu stürzende sei Regierungsagent. Die 31,000 Thaler wurden schließlich in namentlicher Abstimmung mit 173 gegen 131 Stimmen, hauptsächlich Stimmen der Fortschrittspartei und des Centrums bewilligt, aber die Opposition hatte ihrem Herzen genügt. Wenn man mit dem Staat experimentiren dürfte, so wäre ein Fortschrittsministerium sehr wünschenswert!), um eine Regierung zu sehen, die nach dem jetzigen Verlangen der Fortschritts¬ partei nur durch die Güte ihrer Maßregeln, ohne dieselben jemals in der Presse vertheidigen zu lassen, die öffentliche Meinung auf ihrer Seite behält, und die zweitens, wenn sie sich doch vertheidigt, es immer so thut, daß der Gegner angenehm davon berührt Ist. Wenn der Reichskanzler richtig prophe-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/365>, abgerufen am 22.07.2024.