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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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kann, zu verlassen. Denn wenn das Gewissen eines jeden die äußere Rechts¬
sphäre bestimmen soll, so hört die gemeinsame Ordnung auf. Wenn das
Gewissen die äußere Sphäre des Handelns abgrenzen will nach individueller
Autorität, so überschreitet es seine göttliche Schranke. Gewiß, niemand kann
einem Gesetz unbedingten Gehorsam geloben, aber er darf nicht verlangen, auf
dem Boden des Gesetzes, dem sein Gewissen widerstrebt, noch obrigkeitliche
Rechte auszuüben, wie es die katholischen Bischöfe thun. Den Mißbrauch,
welcher heute mit dem Spruch getrieben wird: man muß Gott mehr gehor¬
chen, als den Menschen; hat schon Kant in seiner sophistischen Grundlage
aufgedeckt, indem er bemerkt, daß der Spruch sich nur auf das Sittengesetz,
nicht aber auf ein statutarisches, für göttlich ausgegebenes Gesetz hat beziehen
sollen und immer nur beziehen darf.

Indem Herr Reichensperger sich anschickt, die praktischen Schlußfolger¬
ungen aus seiner Ausführung zu ziehen, die in drei gleich unmöglichen
Formeln -- Herstellung des Status eme" auto, Concordat, oder allgemeine
absolute Freiheit der religiösen Association im Rahmen des allgemeinen Straf¬
gesetzes -- auf den Rückzug des Staats hinauslaufen, erweist er auch dem
Verfasser dieser Zeilen die Ehre eines Cidades. Er citirt aus der Schrift
"Das deutsche Reich und die kirchliche Frage" eine Stelle folgendermaßen: es
wird das große Wort gelassen ausgesprochen: "dem Staate bleibe nichts übrig,
als seinen Bürgern ohne Unterschied die Religionsübung nach Anleitung
des römischen Klerus zu verbieten." In meiner Schrift bilden die citirten
Worte aber einen Nachsatz, dessen Vordersatz folgendermaßen lautet: "wenn
Widerstand und Ungehorsam des römischen Klerus gegen die deutschen Staats¬
gesetze sich fortsetzen, wenn es schließlich dahin kommt, daß kein geistliches Amt
mehr gesetzmäßig besetzt werden kann, weil die Priester sich weigern, die Er¬
fordernisse des Gesetzes zu erfüllen; wenn es dahin kommt, daß mindestens
die hohen geistlichen Aemter, namentlich ,das Bischofsamt, nur noch durch
päpstliche Geheimdelegaten verwaltet werden, so u. s. w." Der unmittelbar
folgende Satz lautet: "wir haben gesagt: wenn es dahin kommt; es mag
zweifelhaft sein, wann es dahin kommt." Herr Reichensperger, der in dem
logischen Kapitel vom Gegensatz so gut Bescheid weiß, sollte er weniger Be¬
scheid wissen in dem Kapitel von den Urtheilen? Sollte er ein konditionales
und assertorisches Urtheil nicht unterscheiden? Dreimal habe ich die Bedingung
ausgesprochen und jedesmal in einem erhöhten Grade und dann dieselbe,
den hypothetischen Charakter schärfend, noch einmal wiederholt. Davon sagt
Herr Reichensperger nichts in seiner Schrift, die bestimmt ist in die weitesten
Kreise der katholischen Welt zu dringen, wohin die meinige nicht gelangt
und nicht gerichtet ist. Doch bleibe ich überzeugt von des Verfassers bona
nass. Ich nehme an, er hat sich berechtigt gehalten, meinen Satz ohne Be-


kann, zu verlassen. Denn wenn das Gewissen eines jeden die äußere Rechts¬
sphäre bestimmen soll, so hört die gemeinsame Ordnung auf. Wenn das
Gewissen die äußere Sphäre des Handelns abgrenzen will nach individueller
Autorität, so überschreitet es seine göttliche Schranke. Gewiß, niemand kann
einem Gesetz unbedingten Gehorsam geloben, aber er darf nicht verlangen, auf
dem Boden des Gesetzes, dem sein Gewissen widerstrebt, noch obrigkeitliche
Rechte auszuüben, wie es die katholischen Bischöfe thun. Den Mißbrauch,
welcher heute mit dem Spruch getrieben wird: man muß Gott mehr gehor¬
chen, als den Menschen; hat schon Kant in seiner sophistischen Grundlage
aufgedeckt, indem er bemerkt, daß der Spruch sich nur auf das Sittengesetz,
nicht aber auf ein statutarisches, für göttlich ausgegebenes Gesetz hat beziehen
sollen und immer nur beziehen darf.

Indem Herr Reichensperger sich anschickt, die praktischen Schlußfolger¬
ungen aus seiner Ausführung zu ziehen, die in drei gleich unmöglichen
Formeln — Herstellung des Status eme» auto, Concordat, oder allgemeine
absolute Freiheit der religiösen Association im Rahmen des allgemeinen Straf¬
gesetzes — auf den Rückzug des Staats hinauslaufen, erweist er auch dem
Verfasser dieser Zeilen die Ehre eines Cidades. Er citirt aus der Schrift
„Das deutsche Reich und die kirchliche Frage" eine Stelle folgendermaßen: es
wird das große Wort gelassen ausgesprochen: „dem Staate bleibe nichts übrig,
als seinen Bürgern ohne Unterschied die Religionsübung nach Anleitung
des römischen Klerus zu verbieten." In meiner Schrift bilden die citirten
Worte aber einen Nachsatz, dessen Vordersatz folgendermaßen lautet: „wenn
Widerstand und Ungehorsam des römischen Klerus gegen die deutschen Staats¬
gesetze sich fortsetzen, wenn es schließlich dahin kommt, daß kein geistliches Amt
mehr gesetzmäßig besetzt werden kann, weil die Priester sich weigern, die Er¬
fordernisse des Gesetzes zu erfüllen; wenn es dahin kommt, daß mindestens
die hohen geistlichen Aemter, namentlich ,das Bischofsamt, nur noch durch
päpstliche Geheimdelegaten verwaltet werden, so u. s. w." Der unmittelbar
folgende Satz lautet: „wir haben gesagt: wenn es dahin kommt; es mag
zweifelhaft sein, wann es dahin kommt." Herr Reichensperger, der in dem
logischen Kapitel vom Gegensatz so gut Bescheid weiß, sollte er weniger Be¬
scheid wissen in dem Kapitel von den Urtheilen? Sollte er ein konditionales
und assertorisches Urtheil nicht unterscheiden? Dreimal habe ich die Bedingung
ausgesprochen und jedesmal in einem erhöhten Grade und dann dieselbe,
den hypothetischen Charakter schärfend, noch einmal wiederholt. Davon sagt
Herr Reichensperger nichts in seiner Schrift, die bestimmt ist in die weitesten
Kreise der katholischen Welt zu dringen, wohin die meinige nicht gelangt
und nicht gerichtet ist. Doch bleibe ich überzeugt von des Verfassers bona
nass. Ich nehme an, er hat sich berechtigt gehalten, meinen Satz ohne Be-


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[0277] kann, zu verlassen. Denn wenn das Gewissen eines jeden die äußere Rechts¬ sphäre bestimmen soll, so hört die gemeinsame Ordnung auf. Wenn das Gewissen die äußere Sphäre des Handelns abgrenzen will nach individueller Autorität, so überschreitet es seine göttliche Schranke. Gewiß, niemand kann einem Gesetz unbedingten Gehorsam geloben, aber er darf nicht verlangen, auf dem Boden des Gesetzes, dem sein Gewissen widerstrebt, noch obrigkeitliche Rechte auszuüben, wie es die katholischen Bischöfe thun. Den Mißbrauch, welcher heute mit dem Spruch getrieben wird: man muß Gott mehr gehor¬ chen, als den Menschen; hat schon Kant in seiner sophistischen Grundlage aufgedeckt, indem er bemerkt, daß der Spruch sich nur auf das Sittengesetz, nicht aber auf ein statutarisches, für göttlich ausgegebenes Gesetz hat beziehen sollen und immer nur beziehen darf. Indem Herr Reichensperger sich anschickt, die praktischen Schlußfolger¬ ungen aus seiner Ausführung zu ziehen, die in drei gleich unmöglichen Formeln — Herstellung des Status eme» auto, Concordat, oder allgemeine absolute Freiheit der religiösen Association im Rahmen des allgemeinen Straf¬ gesetzes — auf den Rückzug des Staats hinauslaufen, erweist er auch dem Verfasser dieser Zeilen die Ehre eines Cidades. Er citirt aus der Schrift „Das deutsche Reich und die kirchliche Frage" eine Stelle folgendermaßen: es wird das große Wort gelassen ausgesprochen: „dem Staate bleibe nichts übrig, als seinen Bürgern ohne Unterschied die Religionsübung nach Anleitung des römischen Klerus zu verbieten." In meiner Schrift bilden die citirten Worte aber einen Nachsatz, dessen Vordersatz folgendermaßen lautet: „wenn Widerstand und Ungehorsam des römischen Klerus gegen die deutschen Staats¬ gesetze sich fortsetzen, wenn es schließlich dahin kommt, daß kein geistliches Amt mehr gesetzmäßig besetzt werden kann, weil die Priester sich weigern, die Er¬ fordernisse des Gesetzes zu erfüllen; wenn es dahin kommt, daß mindestens die hohen geistlichen Aemter, namentlich ,das Bischofsamt, nur noch durch päpstliche Geheimdelegaten verwaltet werden, so u. s. w." Der unmittelbar folgende Satz lautet: „wir haben gesagt: wenn es dahin kommt; es mag zweifelhaft sein, wann es dahin kommt." Herr Reichensperger, der in dem logischen Kapitel vom Gegensatz so gut Bescheid weiß, sollte er weniger Be¬ scheid wissen in dem Kapitel von den Urtheilen? Sollte er ein konditionales und assertorisches Urtheil nicht unterscheiden? Dreimal habe ich die Bedingung ausgesprochen und jedesmal in einem erhöhten Grade und dann dieselbe, den hypothetischen Charakter schärfend, noch einmal wiederholt. Davon sagt Herr Reichensperger nichts in seiner Schrift, die bestimmt ist in die weitesten Kreise der katholischen Welt zu dringen, wohin die meinige nicht gelangt und nicht gerichtet ist. Doch bleibe ich überzeugt von des Verfassers bona nass. Ich nehme an, er hat sich berechtigt gehalten, meinen Satz ohne Be-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/277>, abgerufen am 22.07.2024.