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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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der katholischen Gesetzgebungen, in Bezug auf die obrigkeitlichen Befugnisse
der Kirche, mit den Kirchengesetzen des deutschen Reiches und Preußens. Es
ist leicht, Herrn Geffken zu citiren, welcher sagt: wenn der staatliche Dis-
ciplinarhof die Absetzung eines Geistlichen wegen Fehler der Lehre prüfen
solle, so mische sich der Staat in die innern Angelegenheiten der Kirche.
Aber hat uns denn nicht Herr Reichensperger durch eine vortreffliche logische
Unterscheidung belehrt, daß die uneingeschränkte Freiheit der Kulte gleich
unerträglich ist für den Syllabus, für den gesunden Menschenverstand und
für alle Staaten der Welt? Soll der Staat ruhig zusehen, was die sou-
verainen Oberen aus der katholischen Lehre machen? Herr Reichensperger
sagt, ein indischer Mörderkultus müsse von jedem Staat pflichtmäßig unter¬
drückt werden. D. h. doch wohl, der Staat soll nicht nur die einzelnen
Mörder bestrafen, sondern auch die Lehre und ihre Organisation unterdrücken.
Dazu muß doch der Staat die Lehren überwachen, dann muß er auch ein
Veto haben gegen die Amtsentztehung derer, die bei einer herkömmlichen
Lehre bleiben.

Der Nachweis, daß die deutschen Kirchengesetze von der römischen Kirche
nicht befolgt werden können, wird durch Herrn Reichensperger in keiner Weise
erbracht, auch nicht durch den Wiederabdruck der zehnmal widerlegten, sogar
von katholischer Seite widerlegten Denkschrift der Bischöfe vom 30. Januar
1873, die von irrigen Behauptungen strotzt. Man kann sich des Gedankens
nicht erwehren, daß wenn die römische Kirche jene Gesetze über sich ergehen
ließe, sie nichts von ihrer Macht verlieren und der Staat sich überzeugen
würde, wie wenig er mit solchen Bürgschaften ausrichtet. Was würde wohl
das Staatsexamen in Geschichte, Literatur und Philosophie gegen eine ein¬
seitige Vorbildung und fanatische Richtung der Cleriker wirken? Nur durch
die Machtprobe, zu welcher die römische Kirche unvorsichtiger Weise bei dieser
Gelegenheit den Staat gezwungen, erhält die Vorschrift eine große praktische
Bedeutung.

Der gelungenste Theil in der Schrift des Herrn Reichensperger ist die
Ausführung, daß passiver Widerstand keine Revolution und unter Umständen
eine große moralische Pflicht ist. Auslaufen muß jedoch auch der passive
Widerstand in die Nachgiebigkeit eines Theils oder in die Revolution. Alles
kommt auf die moralische Berechtigung an. Hier nun beruft sich Herr
Reichensperger auf das Gewissen, hebt aber nachdrücklich hervor, es handele
sich um das katholische, nicht um irgend ein anderes Gewissen. Aber wie
viel Gewissen soll es denn geben? So viel als Menschen vermuthlich. Aber
wir brauchen doch Herrn Reichensperger nicht zu sagen, daß diese Souveränität
des Gewissens, die jedem gehört, sich beschränken muß auf das innere Gebiet
und aus das Recht, den Staat, dessen Gesetze das Gewissen nicht befolgen


der katholischen Gesetzgebungen, in Bezug auf die obrigkeitlichen Befugnisse
der Kirche, mit den Kirchengesetzen des deutschen Reiches und Preußens. Es
ist leicht, Herrn Geffken zu citiren, welcher sagt: wenn der staatliche Dis-
ciplinarhof die Absetzung eines Geistlichen wegen Fehler der Lehre prüfen
solle, so mische sich der Staat in die innern Angelegenheiten der Kirche.
Aber hat uns denn nicht Herr Reichensperger durch eine vortreffliche logische
Unterscheidung belehrt, daß die uneingeschränkte Freiheit der Kulte gleich
unerträglich ist für den Syllabus, für den gesunden Menschenverstand und
für alle Staaten der Welt? Soll der Staat ruhig zusehen, was die sou-
verainen Oberen aus der katholischen Lehre machen? Herr Reichensperger
sagt, ein indischer Mörderkultus müsse von jedem Staat pflichtmäßig unter¬
drückt werden. D. h. doch wohl, der Staat soll nicht nur die einzelnen
Mörder bestrafen, sondern auch die Lehre und ihre Organisation unterdrücken.
Dazu muß doch der Staat die Lehren überwachen, dann muß er auch ein
Veto haben gegen die Amtsentztehung derer, die bei einer herkömmlichen
Lehre bleiben.

Der Nachweis, daß die deutschen Kirchengesetze von der römischen Kirche
nicht befolgt werden können, wird durch Herrn Reichensperger in keiner Weise
erbracht, auch nicht durch den Wiederabdruck der zehnmal widerlegten, sogar
von katholischer Seite widerlegten Denkschrift der Bischöfe vom 30. Januar
1873, die von irrigen Behauptungen strotzt. Man kann sich des Gedankens
nicht erwehren, daß wenn die römische Kirche jene Gesetze über sich ergehen
ließe, sie nichts von ihrer Macht verlieren und der Staat sich überzeugen
würde, wie wenig er mit solchen Bürgschaften ausrichtet. Was würde wohl
das Staatsexamen in Geschichte, Literatur und Philosophie gegen eine ein¬
seitige Vorbildung und fanatische Richtung der Cleriker wirken? Nur durch
die Machtprobe, zu welcher die römische Kirche unvorsichtiger Weise bei dieser
Gelegenheit den Staat gezwungen, erhält die Vorschrift eine große praktische
Bedeutung.

Der gelungenste Theil in der Schrift des Herrn Reichensperger ist die
Ausführung, daß passiver Widerstand keine Revolution und unter Umständen
eine große moralische Pflicht ist. Auslaufen muß jedoch auch der passive
Widerstand in die Nachgiebigkeit eines Theils oder in die Revolution. Alles
kommt auf die moralische Berechtigung an. Hier nun beruft sich Herr
Reichensperger auf das Gewissen, hebt aber nachdrücklich hervor, es handele
sich um das katholische, nicht um irgend ein anderes Gewissen. Aber wie
viel Gewissen soll es denn geben? So viel als Menschen vermuthlich. Aber
wir brauchen doch Herrn Reichensperger nicht zu sagen, daß diese Souveränität
des Gewissens, die jedem gehört, sich beschränken muß auf das innere Gebiet
und aus das Recht, den Staat, dessen Gesetze das Gewissen nicht befolgen


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[0276] der katholischen Gesetzgebungen, in Bezug auf die obrigkeitlichen Befugnisse der Kirche, mit den Kirchengesetzen des deutschen Reiches und Preußens. Es ist leicht, Herrn Geffken zu citiren, welcher sagt: wenn der staatliche Dis- ciplinarhof die Absetzung eines Geistlichen wegen Fehler der Lehre prüfen solle, so mische sich der Staat in die innern Angelegenheiten der Kirche. Aber hat uns denn nicht Herr Reichensperger durch eine vortreffliche logische Unterscheidung belehrt, daß die uneingeschränkte Freiheit der Kulte gleich unerträglich ist für den Syllabus, für den gesunden Menschenverstand und für alle Staaten der Welt? Soll der Staat ruhig zusehen, was die sou- verainen Oberen aus der katholischen Lehre machen? Herr Reichensperger sagt, ein indischer Mörderkultus müsse von jedem Staat pflichtmäßig unter¬ drückt werden. D. h. doch wohl, der Staat soll nicht nur die einzelnen Mörder bestrafen, sondern auch die Lehre und ihre Organisation unterdrücken. Dazu muß doch der Staat die Lehren überwachen, dann muß er auch ein Veto haben gegen die Amtsentztehung derer, die bei einer herkömmlichen Lehre bleiben. Der Nachweis, daß die deutschen Kirchengesetze von der römischen Kirche nicht befolgt werden können, wird durch Herrn Reichensperger in keiner Weise erbracht, auch nicht durch den Wiederabdruck der zehnmal widerlegten, sogar von katholischer Seite widerlegten Denkschrift der Bischöfe vom 30. Januar 1873, die von irrigen Behauptungen strotzt. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß wenn die römische Kirche jene Gesetze über sich ergehen ließe, sie nichts von ihrer Macht verlieren und der Staat sich überzeugen würde, wie wenig er mit solchen Bürgschaften ausrichtet. Was würde wohl das Staatsexamen in Geschichte, Literatur und Philosophie gegen eine ein¬ seitige Vorbildung und fanatische Richtung der Cleriker wirken? Nur durch die Machtprobe, zu welcher die römische Kirche unvorsichtiger Weise bei dieser Gelegenheit den Staat gezwungen, erhält die Vorschrift eine große praktische Bedeutung. Der gelungenste Theil in der Schrift des Herrn Reichensperger ist die Ausführung, daß passiver Widerstand keine Revolution und unter Umständen eine große moralische Pflicht ist. Auslaufen muß jedoch auch der passive Widerstand in die Nachgiebigkeit eines Theils oder in die Revolution. Alles kommt auf die moralische Berechtigung an. Hier nun beruft sich Herr Reichensperger auf das Gewissen, hebt aber nachdrücklich hervor, es handele sich um das katholische, nicht um irgend ein anderes Gewissen. Aber wie viel Gewissen soll es denn geben? So viel als Menschen vermuthlich. Aber wir brauchen doch Herrn Reichensperger nicht zu sagen, daß diese Souveränität des Gewissens, die jedem gehört, sich beschränken muß auf das innere Gebiet und aus das Recht, den Staat, dessen Gesetze das Gewissen nicht befolgen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/276>, abgerufen am 22.07.2024.