Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Mann werde nicht zur Feder greisen, wenn er nicht etwas Förderndes, Er¬
leuchtendes, den befangenen Streitern bisher Verborgenes zu sagen habe. In
dieser Beziehung nun kann die Schrift wohl nichts Anderes als eine Ent¬
täuschung zu Wege bringen, und dieser Eindruck ist in der kurzen Zeit, die
seit Ausgabe der Schrift verflossen, bereits laut geworden und wird sich wohl
noch mehr vernehmen lassen.

Nicht als ob Herr Reichensperger sich verleugnete. Dieselbe feine und
abwägende Besonnenheit, dieselbe ruhig maßhaltende Ausdrucksweise auch bei
den aufregendsten Gegenständen, diese Eigenschaften, die den Redner und
Schriftsteller immer ausgezeichnet, bewährt er wiederum im vollen Maße.
Allein eine neue Belehrung über die Sache bringt er nicht und denselben
Irrthümern, denen leidenschaftlichere, unbesonnenere, minder gewissenhafte Ver¬
theidiger seines Standpunktes verfallen, entgeht er nicht.

Man fühlt sich getrieben zu fragen, warum die Schrift geschrieben und
warum sie jetzt veröffentlicht worden. Kaum kann sich der Verfasser der
Meinung hingegeben haben, die Vertreter des deutschen Staates und die über¬
zeugten Anhänger seiner Haltung mit solchen Gründen widerlegt zu haben,
denen entweder durch Bekehrung zu weichen oder nur durch Verstockung zu
widerstehen ist. Wohl aber könnte es die Absicht der Partei sein, welcher
der Verfasser angehört, durch eine Schrift, welche in die weitesten Kreise des
Katholicismus zu dringen bestimmt ist, namentlich dem gebildeten Theil der
katholischen Welt einen sprechenden Beleg, gewissermaßen eine klassische Be¬
weisform des über die katholische Kirche ungerechter Weise verhängten Mar¬
tyriums in die Hand zu geben. Dazu eignet sich am besten ein Schriftsteller,
dessen Charakter jeder Uebertreibung fern ist, in dessen maßhaltendem Geiste
auch die unbegrenzten Ansprüche der eigenen Partei sich unwillkürlich und
aufrichtig in Einklang setzen mit dem wahren, unaufgeblichen Verhältniß der
dauernden Lebensmächte.

Auch die Meinung bietet sich dar, daß die Schrift dazu dienen solle, bei
den Friedensunterhandlungen zwischen Deutschland und Rom, von deren
Aufnahme ja mit Recht oder Unrecht immer wieder die Rede ist, als Weg¬
weiser zu dienen. Wir lassen beide Vermuthungen dahingestellt. Aber daß
die Schrift ein Wegweiser zum Frieden sein könne, daran glauben wir nicht
und ein rascher Ueberblick des Inhaltes soll uns diesen Zweifel bestätigen.

Nachdem Herr Reichensperger die Leiden, welche der Kulturkampf über
die katholische Kirche in Deutschland verhängt und die Gefahren, mit denen
dieser Kampf den deutschen Staat durch inneren Zwiespalt bedroht sowie
durch Gefährdung der Religion, in seiner Weise geschildert, untersucht er die
Frage nach dem Ursprung des Kampfes und sucht zu beweisen, daß der
katholische Theil zur Eröffnung desselben nicht den Anlaß und noch viel


Mann werde nicht zur Feder greisen, wenn er nicht etwas Förderndes, Er¬
leuchtendes, den befangenen Streitern bisher Verborgenes zu sagen habe. In
dieser Beziehung nun kann die Schrift wohl nichts Anderes als eine Ent¬
täuschung zu Wege bringen, und dieser Eindruck ist in der kurzen Zeit, die
seit Ausgabe der Schrift verflossen, bereits laut geworden und wird sich wohl
noch mehr vernehmen lassen.

Nicht als ob Herr Reichensperger sich verleugnete. Dieselbe feine und
abwägende Besonnenheit, dieselbe ruhig maßhaltende Ausdrucksweise auch bei
den aufregendsten Gegenständen, diese Eigenschaften, die den Redner und
Schriftsteller immer ausgezeichnet, bewährt er wiederum im vollen Maße.
Allein eine neue Belehrung über die Sache bringt er nicht und denselben
Irrthümern, denen leidenschaftlichere, unbesonnenere, minder gewissenhafte Ver¬
theidiger seines Standpunktes verfallen, entgeht er nicht.

Man fühlt sich getrieben zu fragen, warum die Schrift geschrieben und
warum sie jetzt veröffentlicht worden. Kaum kann sich der Verfasser der
Meinung hingegeben haben, die Vertreter des deutschen Staates und die über¬
zeugten Anhänger seiner Haltung mit solchen Gründen widerlegt zu haben,
denen entweder durch Bekehrung zu weichen oder nur durch Verstockung zu
widerstehen ist. Wohl aber könnte es die Absicht der Partei sein, welcher
der Verfasser angehört, durch eine Schrift, welche in die weitesten Kreise des
Katholicismus zu dringen bestimmt ist, namentlich dem gebildeten Theil der
katholischen Welt einen sprechenden Beleg, gewissermaßen eine klassische Be¬
weisform des über die katholische Kirche ungerechter Weise verhängten Mar¬
tyriums in die Hand zu geben. Dazu eignet sich am besten ein Schriftsteller,
dessen Charakter jeder Uebertreibung fern ist, in dessen maßhaltendem Geiste
auch die unbegrenzten Ansprüche der eigenen Partei sich unwillkürlich und
aufrichtig in Einklang setzen mit dem wahren, unaufgeblichen Verhältniß der
dauernden Lebensmächte.

Auch die Meinung bietet sich dar, daß die Schrift dazu dienen solle, bei
den Friedensunterhandlungen zwischen Deutschland und Rom, von deren
Aufnahme ja mit Recht oder Unrecht immer wieder die Rede ist, als Weg¬
weiser zu dienen. Wir lassen beide Vermuthungen dahingestellt. Aber daß
die Schrift ein Wegweiser zum Frieden sein könne, daran glauben wir nicht
und ein rascher Ueberblick des Inhaltes soll uns diesen Zweifel bestätigen.

Nachdem Herr Reichensperger die Leiden, welche der Kulturkampf über
die katholische Kirche in Deutschland verhängt und die Gefahren, mit denen
dieser Kampf den deutschen Staat durch inneren Zwiespalt bedroht sowie
durch Gefährdung der Religion, in seiner Weise geschildert, untersucht er die
Frage nach dem Ursprung des Kampfes und sucht zu beweisen, daß der
katholische Theil zur Eröffnung desselben nicht den Anlaß und noch viel


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0269" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135322"/>
          <p xml:id="ID_736" prev="#ID_735"> Mann werde nicht zur Feder greisen, wenn er nicht etwas Förderndes, Er¬<lb/>
leuchtendes, den befangenen Streitern bisher Verborgenes zu sagen habe. In<lb/>
dieser Beziehung nun kann die Schrift wohl nichts Anderes als eine Ent¬<lb/>
täuschung zu Wege bringen, und dieser Eindruck ist in der kurzen Zeit, die<lb/>
seit Ausgabe der Schrift verflossen, bereits laut geworden und wird sich wohl<lb/>
noch mehr vernehmen lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_737"> Nicht als ob Herr Reichensperger sich verleugnete. Dieselbe feine und<lb/>
abwägende Besonnenheit, dieselbe ruhig maßhaltende Ausdrucksweise auch bei<lb/>
den aufregendsten Gegenständen, diese Eigenschaften, die den Redner und<lb/>
Schriftsteller immer ausgezeichnet, bewährt er wiederum im vollen Maße.<lb/>
Allein eine neue Belehrung über die Sache bringt er nicht und denselben<lb/>
Irrthümern, denen leidenschaftlichere, unbesonnenere, minder gewissenhafte Ver¬<lb/>
theidiger seines Standpunktes verfallen, entgeht er nicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_738"> Man fühlt sich getrieben zu fragen, warum die Schrift geschrieben und<lb/>
warum sie jetzt veröffentlicht worden. Kaum kann sich der Verfasser der<lb/>
Meinung hingegeben haben, die Vertreter des deutschen Staates und die über¬<lb/>
zeugten Anhänger seiner Haltung mit solchen Gründen widerlegt zu haben,<lb/>
denen entweder durch Bekehrung zu weichen oder nur durch Verstockung zu<lb/>
widerstehen ist. Wohl aber könnte es die Absicht der Partei sein, welcher<lb/>
der Verfasser angehört, durch eine Schrift, welche in die weitesten Kreise des<lb/>
Katholicismus zu dringen bestimmt ist, namentlich dem gebildeten Theil der<lb/>
katholischen Welt einen sprechenden Beleg, gewissermaßen eine klassische Be¬<lb/>
weisform des über die katholische Kirche ungerechter Weise verhängten Mar¬<lb/>
tyriums in die Hand zu geben. Dazu eignet sich am besten ein Schriftsteller,<lb/>
dessen Charakter jeder Uebertreibung fern ist, in dessen maßhaltendem Geiste<lb/>
auch die unbegrenzten Ansprüche der eigenen Partei sich unwillkürlich und<lb/>
aufrichtig in Einklang setzen mit dem wahren, unaufgeblichen Verhältniß der<lb/>
dauernden Lebensmächte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_739"> Auch die Meinung bietet sich dar, daß die Schrift dazu dienen solle, bei<lb/>
den Friedensunterhandlungen zwischen Deutschland und Rom, von deren<lb/>
Aufnahme ja mit Recht oder Unrecht immer wieder die Rede ist, als Weg¬<lb/>
weiser zu dienen. Wir lassen beide Vermuthungen dahingestellt. Aber daß<lb/>
die Schrift ein Wegweiser zum Frieden sein könne, daran glauben wir nicht<lb/>
und ein rascher Ueberblick des Inhaltes soll uns diesen Zweifel bestätigen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_740" next="#ID_741"> Nachdem Herr Reichensperger die Leiden, welche der Kulturkampf über<lb/>
die katholische Kirche in Deutschland verhängt und die Gefahren, mit denen<lb/>
dieser Kampf den deutschen Staat durch inneren Zwiespalt bedroht sowie<lb/>
durch Gefährdung der Religion, in seiner Weise geschildert, untersucht er die<lb/>
Frage nach dem Ursprung des Kampfes und sucht zu beweisen, daß der<lb/>
katholische Theil zur Eröffnung desselben nicht den Anlaß und noch viel</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0269] Mann werde nicht zur Feder greisen, wenn er nicht etwas Förderndes, Er¬ leuchtendes, den befangenen Streitern bisher Verborgenes zu sagen habe. In dieser Beziehung nun kann die Schrift wohl nichts Anderes als eine Ent¬ täuschung zu Wege bringen, und dieser Eindruck ist in der kurzen Zeit, die seit Ausgabe der Schrift verflossen, bereits laut geworden und wird sich wohl noch mehr vernehmen lassen. Nicht als ob Herr Reichensperger sich verleugnete. Dieselbe feine und abwägende Besonnenheit, dieselbe ruhig maßhaltende Ausdrucksweise auch bei den aufregendsten Gegenständen, diese Eigenschaften, die den Redner und Schriftsteller immer ausgezeichnet, bewährt er wiederum im vollen Maße. Allein eine neue Belehrung über die Sache bringt er nicht und denselben Irrthümern, denen leidenschaftlichere, unbesonnenere, minder gewissenhafte Ver¬ theidiger seines Standpunktes verfallen, entgeht er nicht. Man fühlt sich getrieben zu fragen, warum die Schrift geschrieben und warum sie jetzt veröffentlicht worden. Kaum kann sich der Verfasser der Meinung hingegeben haben, die Vertreter des deutschen Staates und die über¬ zeugten Anhänger seiner Haltung mit solchen Gründen widerlegt zu haben, denen entweder durch Bekehrung zu weichen oder nur durch Verstockung zu widerstehen ist. Wohl aber könnte es die Absicht der Partei sein, welcher der Verfasser angehört, durch eine Schrift, welche in die weitesten Kreise des Katholicismus zu dringen bestimmt ist, namentlich dem gebildeten Theil der katholischen Welt einen sprechenden Beleg, gewissermaßen eine klassische Be¬ weisform des über die katholische Kirche ungerechter Weise verhängten Mar¬ tyriums in die Hand zu geben. Dazu eignet sich am besten ein Schriftsteller, dessen Charakter jeder Uebertreibung fern ist, in dessen maßhaltendem Geiste auch die unbegrenzten Ansprüche der eigenen Partei sich unwillkürlich und aufrichtig in Einklang setzen mit dem wahren, unaufgeblichen Verhältniß der dauernden Lebensmächte. Auch die Meinung bietet sich dar, daß die Schrift dazu dienen solle, bei den Friedensunterhandlungen zwischen Deutschland und Rom, von deren Aufnahme ja mit Recht oder Unrecht immer wieder die Rede ist, als Weg¬ weiser zu dienen. Wir lassen beide Vermuthungen dahingestellt. Aber daß die Schrift ein Wegweiser zum Frieden sein könne, daran glauben wir nicht und ein rascher Ueberblick des Inhaltes soll uns diesen Zweifel bestätigen. Nachdem Herr Reichensperger die Leiden, welche der Kulturkampf über die katholische Kirche in Deutschland verhängt und die Gefahren, mit denen dieser Kampf den deutschen Staat durch inneren Zwiespalt bedroht sowie durch Gefährdung der Religion, in seiner Weise geschildert, untersucht er die Frage nach dem Ursprung des Kampfes und sucht zu beweisen, daß der katholische Theil zur Eröffnung desselben nicht den Anlaß und noch viel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/269
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/269>, abgerufen am 23.07.2024.