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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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und stützte sich mit der einen Hand auf den Fußboden, während sie die an¬
dere ans Herz gepreßt hatte. Ihre Glieder hatte die Starre des Todes er¬
griffen, und auf ihrem Antlitze lag in dem dämmernden Lichte der Sonne
etwas mehr als der Schrecken des Todes. Ihre Lippen waren zu flehentlicher
Bitte, wie zu einem Ausdrucke des Schmerzes, wie zu einem Aufschrei des
Todeskampfes geöffnet, und -- auf ihrer blutlosen Stirn und ihren bleichen
Wangen glühten die Spuren von zehn gräßlichen Wunden, die ihr zwei rach¬
süchtige gespenstische Hände zugefügt hatten." Todtgekratzt also von der ver¬
storbenen Schwester, der Hüterin des Kleiderschatzes! Abgeschmackt! Schade;
denn auch diese Geschichte ist gut erzählt.

Die letzte Novelle: "Madame de Mauves" spielt in Saint Germatn
und ist die Geschichte einer Amerikanerin, die an einen französischen Baron
verheirathet ist und sich in dieser Ehe, zu der sie die Liebe, den Baron aber
nur ihr Geld bewogen hat, unglücklich fühlt, dennoch aber der Versuchung,
die ihr in Gestalt eines liebenswürdigen und ehrenwerthen Landsmannes naht,
zu widerstehen die Kraft hat. Der Baron behandelt sie zwar mit aller Ar¬
tigkeit seiner Nation und seines Standes, verhehlt aber kaum, daß er ihr
untreu ist. Er sieht es gern, daß sich in jenem Landsmann ein Tröster für
seine Frau zu finden scheint, ja er sagt ihr, als sie endlich Beweise für seine
Liederlichkeit in die Hände bekommt, geradezu, sie möge die Gelegenheit, sich
zu entschädigen, benutzen. Seine nichtsnutzige Schwester macht Longmore --
so heißt der amerikanische Hausfreund, bei dem das anfängliche Mitleid mit
der unglücklich Vermählten bei näherer Bekanntschaft zu warmer Neigung und
zuletzt zu heißer Liebe geworden ist -- eben so deutlich auf diese nachsichtige
Liberalität des Barons aufmerksam, und Longmore ist zu Ende der Erzählung
daran, der Versuchung zu unterliegen. Aber Madame de Mauves bleibt fest,
sie liebt ihn nicht, sie achtet ihn und ermahnt ihn in der Stunde der Ent¬
scheidung, sich ihre Achtung durch Entsagung und Abreise zu erhalten. Er
gehorcht mit schwerem Herzen. Später hört er aus dem Munde "eines ge-
schetdten jungen Franzosen," daß Euphemia "ihren Gemahl umgebracht
hat". "Er hatte bereut und sie um Verzeihung gebeten, die sie unerbittlich
verweigert hatte. Sie war sehr hübsch, und Strenge stand ihr, wie es scheint,
gut zu Gesichte; denn, ob nun ihr Mann sie vorher geliebt hatte oder nicht,
er verliebte sich jetzt ganz wahnsinnig in sie. Er war der stolzeste Mann in
ganz Frankreich, aber er hatte sie auf seinen Knieen gebeten, wieder zu Gnaden
angenommen zu werden. Alles vergeblich! Sie war Stein, sie war Eis, sie
war die beleidigte Tugend. Die Leute bemerkten nun eine große Veränderung
an ihm: er gab es auf, in Gesellschaft zu gehen, er interessirte sich für nichts
mehr, er sah entsetzlich aus. Eines schönen Tages hörte man, daß er sich eine
Kugel durch den Kopf gejagt habe." Natürlich erwarten wir nun, daß "sie


und stützte sich mit der einen Hand auf den Fußboden, während sie die an¬
dere ans Herz gepreßt hatte. Ihre Glieder hatte die Starre des Todes er¬
griffen, und auf ihrem Antlitze lag in dem dämmernden Lichte der Sonne
etwas mehr als der Schrecken des Todes. Ihre Lippen waren zu flehentlicher
Bitte, wie zu einem Ausdrucke des Schmerzes, wie zu einem Aufschrei des
Todeskampfes geöffnet, und — auf ihrer blutlosen Stirn und ihren bleichen
Wangen glühten die Spuren von zehn gräßlichen Wunden, die ihr zwei rach¬
süchtige gespenstische Hände zugefügt hatten." Todtgekratzt also von der ver¬
storbenen Schwester, der Hüterin des Kleiderschatzes! Abgeschmackt! Schade;
denn auch diese Geschichte ist gut erzählt.

Die letzte Novelle: „Madame de Mauves" spielt in Saint Germatn
und ist die Geschichte einer Amerikanerin, die an einen französischen Baron
verheirathet ist und sich in dieser Ehe, zu der sie die Liebe, den Baron aber
nur ihr Geld bewogen hat, unglücklich fühlt, dennoch aber der Versuchung,
die ihr in Gestalt eines liebenswürdigen und ehrenwerthen Landsmannes naht,
zu widerstehen die Kraft hat. Der Baron behandelt sie zwar mit aller Ar¬
tigkeit seiner Nation und seines Standes, verhehlt aber kaum, daß er ihr
untreu ist. Er sieht es gern, daß sich in jenem Landsmann ein Tröster für
seine Frau zu finden scheint, ja er sagt ihr, als sie endlich Beweise für seine
Liederlichkeit in die Hände bekommt, geradezu, sie möge die Gelegenheit, sich
zu entschädigen, benutzen. Seine nichtsnutzige Schwester macht Longmore —
so heißt der amerikanische Hausfreund, bei dem das anfängliche Mitleid mit
der unglücklich Vermählten bei näherer Bekanntschaft zu warmer Neigung und
zuletzt zu heißer Liebe geworden ist — eben so deutlich auf diese nachsichtige
Liberalität des Barons aufmerksam, und Longmore ist zu Ende der Erzählung
daran, der Versuchung zu unterliegen. Aber Madame de Mauves bleibt fest,
sie liebt ihn nicht, sie achtet ihn und ermahnt ihn in der Stunde der Ent¬
scheidung, sich ihre Achtung durch Entsagung und Abreise zu erhalten. Er
gehorcht mit schwerem Herzen. Später hört er aus dem Munde „eines ge-
schetdten jungen Franzosen," daß Euphemia „ihren Gemahl umgebracht
hat". „Er hatte bereut und sie um Verzeihung gebeten, die sie unerbittlich
verweigert hatte. Sie war sehr hübsch, und Strenge stand ihr, wie es scheint,
gut zu Gesichte; denn, ob nun ihr Mann sie vorher geliebt hatte oder nicht,
er verliebte sich jetzt ganz wahnsinnig in sie. Er war der stolzeste Mann in
ganz Frankreich, aber er hatte sie auf seinen Knieen gebeten, wieder zu Gnaden
angenommen zu werden. Alles vergeblich! Sie war Stein, sie war Eis, sie
war die beleidigte Tugend. Die Leute bemerkten nun eine große Veränderung
an ihm: er gab es auf, in Gesellschaft zu gehen, er interessirte sich für nichts
mehr, er sah entsetzlich aus. Eines schönen Tages hörte man, daß er sich eine
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/267>, abgerufen am 22.07.2024.