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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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hochverräterischer Unternehmungen gegen Deutschland gemacht werde. Die
Veränderung wurde indeß abgelehnt. Bei der Bekämpfung glänzten nament¬
lich die Redner der Fortschrittspartei, indem sie nicht begreifen konnten, wa¬
rum wir den Hochverrath gegen das Ausland in unsern Grenzen bestrafen
sollen, so lange uns die Gegenseitigkeit nicht zugesagt ist. Wem fällt nicht
der köstliche Bilderbogen aus der Knabenzeit ein, wo die Bürger von Schilda
verhandeln, ob sie dem Feind entgegengehen sollen, und mit ihrer Weisheit
zu dem Resultat kommen: warum sollen wir dem Feind entgegengehen? --
der Feind kann zu uns kommen. Darüber lacht man als Knabe und hält
es für Scherz. Wenn man in reifen Jahren diesen Beschluß von der höchsten
Versammlung des eignen Landes gefaßt sieht, lernt man freilich an die Wirk¬
lichkett glauben, und man hört auf zu lachen. Die künftige Geschichtsschrei¬
bung wird bei dieser Sitzung vom 20. Januar verweilen als einem der
schlagendsten Beispiele, wie weit die Mehrheit der Zeitgenossen im Stande
war, den Gedanken ihres großen Kanzlers zu folgen.

Diejenigen Paragraphen der Novelle, deren Annahme mit geringen Ver¬
änderungen erfolgt ist, verfolgen wir bei der Berathung nicht, sondern be¬
gnügen uns, die wichtigeren anzuführen, so die wohlthätige Bestimmung, wo¬
durch die Vergehen wider die Sittlichkeit aufhören , Antragsvergehen zu sein.
Wir wollen hier die Bemerkung einschalten, daß nach unserer criminalistischen
Ueberzeugung das Strafgesetzbuch gar keine Vergehen enthalten sollte, die nur
auf Antrag des Verletzten verfolgt werden dürfen. Die Zulassung dieser
Kategorie widerspricht den Grundprinzipien alles Strafrechts, und die prak¬
tischen Gründe halten keiner genauen Prüfung Stich/) Nothwendig ist freilich
nach Beseitigung der Antragsvergehen ein freies Ermessen der Staatsanwalt¬
schaft über die Einleitung der Straferfolgung, und dieses freie Ermessen be¬
darf zu seiner Korrektur des Institutes der Popularklage, an das unsere
Juristen noch durchaus nicht heran wollen, auch diejenigen nicht, die dem
Befürworter dieses Institutes, Gneist, fast überall folgen in seiner Vorliebe
für die Gestalt der englischen Strafrechtspflege. Wir unsererseits folgen
Gneist auf dem Gebiet des Strafrechts nur in der Ueberzeugung von der
Unentbehrlichkeit der Popularklage in einem richtig angelegten und vollstän¬
digen Rechtssystem. -- In der Ueberzeugung, daß die Antragsvergehen zu
beseitigen sind, macht uns auch der Diebstahl der Hausgenossen und Aehn-
liches nicht irre. Denn wie sollen solche Handlungen als strafbar qualificirt



Sowohl vom criminalpolitischm als vom praktischen Standpunkt aus ist das Institut der
sog- Antragsdelicte bereits in den Motiven zum deutschen Strafgesetzbuch von 1870 für die
große Mehrzahl der deutschen Fachmänner in ausreichender Weise als nothwendig charakterisirt.
Es kann daher hier von einer weiteren Bekämpfung der Idee der Einführung der Popularklage
i D. Red. n" deutsche Strafrecht füglich abgesehen werden.
Grenzboten I. 1876. 30

hochverräterischer Unternehmungen gegen Deutschland gemacht werde. Die
Veränderung wurde indeß abgelehnt. Bei der Bekämpfung glänzten nament¬
lich die Redner der Fortschrittspartei, indem sie nicht begreifen konnten, wa¬
rum wir den Hochverrath gegen das Ausland in unsern Grenzen bestrafen
sollen, so lange uns die Gegenseitigkeit nicht zugesagt ist. Wem fällt nicht
der köstliche Bilderbogen aus der Knabenzeit ein, wo die Bürger von Schilda
verhandeln, ob sie dem Feind entgegengehen sollen, und mit ihrer Weisheit
zu dem Resultat kommen: warum sollen wir dem Feind entgegengehen? —
der Feind kann zu uns kommen. Darüber lacht man als Knabe und hält
es für Scherz. Wenn man in reifen Jahren diesen Beschluß von der höchsten
Versammlung des eignen Landes gefaßt sieht, lernt man freilich an die Wirk¬
lichkett glauben, und man hört auf zu lachen. Die künftige Geschichtsschrei¬
bung wird bei dieser Sitzung vom 20. Januar verweilen als einem der
schlagendsten Beispiele, wie weit die Mehrheit der Zeitgenossen im Stande
war, den Gedanken ihres großen Kanzlers zu folgen.

Diejenigen Paragraphen der Novelle, deren Annahme mit geringen Ver¬
änderungen erfolgt ist, verfolgen wir bei der Berathung nicht, sondern be¬
gnügen uns, die wichtigeren anzuführen, so die wohlthätige Bestimmung, wo¬
durch die Vergehen wider die Sittlichkeit aufhören , Antragsvergehen zu sein.
Wir wollen hier die Bemerkung einschalten, daß nach unserer criminalistischen
Ueberzeugung das Strafgesetzbuch gar keine Vergehen enthalten sollte, die nur
auf Antrag des Verletzten verfolgt werden dürfen. Die Zulassung dieser
Kategorie widerspricht den Grundprinzipien alles Strafrechts, und die prak¬
tischen Gründe halten keiner genauen Prüfung Stich/) Nothwendig ist freilich
nach Beseitigung der Antragsvergehen ein freies Ermessen der Staatsanwalt¬
schaft über die Einleitung der Straferfolgung, und dieses freie Ermessen be¬
darf zu seiner Korrektur des Institutes der Popularklage, an das unsere
Juristen noch durchaus nicht heran wollen, auch diejenigen nicht, die dem
Befürworter dieses Institutes, Gneist, fast überall folgen in seiner Vorliebe
für die Gestalt der englischen Strafrechtspflege. Wir unsererseits folgen
Gneist auf dem Gebiet des Strafrechts nur in der Ueberzeugung von der
Unentbehrlichkeit der Popularklage in einem richtig angelegten und vollstän¬
digen Rechtssystem. — In der Ueberzeugung, daß die Antragsvergehen zu
beseitigen sind, macht uns auch der Diebstahl der Hausgenossen und Aehn-
liches nicht irre. Denn wie sollen solche Handlungen als strafbar qualificirt



Sowohl vom criminalpolitischm als vom praktischen Standpunkt aus ist das Institut der
sog- Antragsdelicte bereits in den Motiven zum deutschen Strafgesetzbuch von 1870 für die
große Mehrzahl der deutschen Fachmänner in ausreichender Weise als nothwendig charakterisirt.
Es kann daher hier von einer weiteren Bekämpfung der Idee der Einführung der Popularklage
i D. Red. n« deutsche Strafrecht füglich abgesehen werden.
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[0241] hochverräterischer Unternehmungen gegen Deutschland gemacht werde. Die Veränderung wurde indeß abgelehnt. Bei der Bekämpfung glänzten nament¬ lich die Redner der Fortschrittspartei, indem sie nicht begreifen konnten, wa¬ rum wir den Hochverrath gegen das Ausland in unsern Grenzen bestrafen sollen, so lange uns die Gegenseitigkeit nicht zugesagt ist. Wem fällt nicht der köstliche Bilderbogen aus der Knabenzeit ein, wo die Bürger von Schilda verhandeln, ob sie dem Feind entgegengehen sollen, und mit ihrer Weisheit zu dem Resultat kommen: warum sollen wir dem Feind entgegengehen? — der Feind kann zu uns kommen. Darüber lacht man als Knabe und hält es für Scherz. Wenn man in reifen Jahren diesen Beschluß von der höchsten Versammlung des eignen Landes gefaßt sieht, lernt man freilich an die Wirk¬ lichkett glauben, und man hört auf zu lachen. Die künftige Geschichtsschrei¬ bung wird bei dieser Sitzung vom 20. Januar verweilen als einem der schlagendsten Beispiele, wie weit die Mehrheit der Zeitgenossen im Stande war, den Gedanken ihres großen Kanzlers zu folgen. Diejenigen Paragraphen der Novelle, deren Annahme mit geringen Ver¬ änderungen erfolgt ist, verfolgen wir bei der Berathung nicht, sondern be¬ gnügen uns, die wichtigeren anzuführen, so die wohlthätige Bestimmung, wo¬ durch die Vergehen wider die Sittlichkeit aufhören , Antragsvergehen zu sein. Wir wollen hier die Bemerkung einschalten, daß nach unserer criminalistischen Ueberzeugung das Strafgesetzbuch gar keine Vergehen enthalten sollte, die nur auf Antrag des Verletzten verfolgt werden dürfen. Die Zulassung dieser Kategorie widerspricht den Grundprinzipien alles Strafrechts, und die prak¬ tischen Gründe halten keiner genauen Prüfung Stich/) Nothwendig ist freilich nach Beseitigung der Antragsvergehen ein freies Ermessen der Staatsanwalt¬ schaft über die Einleitung der Straferfolgung, und dieses freie Ermessen be¬ darf zu seiner Korrektur des Institutes der Popularklage, an das unsere Juristen noch durchaus nicht heran wollen, auch diejenigen nicht, die dem Befürworter dieses Institutes, Gneist, fast überall folgen in seiner Vorliebe für die Gestalt der englischen Strafrechtspflege. Wir unsererseits folgen Gneist auf dem Gebiet des Strafrechts nur in der Ueberzeugung von der Unentbehrlichkeit der Popularklage in einem richtig angelegten und vollstän¬ digen Rechtssystem. — In der Ueberzeugung, daß die Antragsvergehen zu beseitigen sind, macht uns auch der Diebstahl der Hausgenossen und Aehn- liches nicht irre. Denn wie sollen solche Handlungen als strafbar qualificirt Sowohl vom criminalpolitischm als vom praktischen Standpunkt aus ist das Institut der sog- Antragsdelicte bereits in den Motiven zum deutschen Strafgesetzbuch von 1870 für die große Mehrzahl der deutschen Fachmänner in ausreichender Weise als nothwendig charakterisirt. Es kann daher hier von einer weiteren Bekämpfung der Idee der Einführung der Popularklage i D. Red. n« deutsche Strafrecht füglich abgesehen werden. Grenzboten I. 1876. 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/241>, abgerufen am 01.07.2024.