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Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

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Empfindung verwerthen, um die religiöse Gleichgiltigkeit der Männerwelt
zu überwinden.

Zur Darlegung echter und falscher Toleranz macht Meyer eine Wande¬
rung durch die Weltgeschichte, und zeigt wie vornehmlich Philosophen die
Helden und Märtyrer der Geistesfreiheit waren. Er warnt die Gegenwart
davor: in jedem Geistlichen einen Pfaffen, in jedem Mann der Wissenschaft
einen Atheisten zu sehn; er eifert gegen die Intoleranz der Halbbildung unsrer
Tage, die mit den Ultramontanen wetteifert. Da gelte es für Angehörigkeit
zu einer längst überwundenen Denkschicht, wenn man von Gott und Ver¬
suchung rede, da solle man Atheist oder "Monist" sein, wenn man für
wissenschaftlich gelten wolle. "Man muß annehmen, daß erst der Kampf
ums Dasein Vernunft und zweckmäßige Ordnung in die Welt gebracht hat
und fortdauernd bringt; wer glaubt, daß die Welt schon von vornherein
zweckdurchdrungen angelegt war und deshalb auf einen vernünftigen Urquell
hinweist, denkt Veraltetes, wenn er sich nicht etwa bezwingt diesen Urquell als
das somnambule Unbewußte zu verehren. Und solche Verurtheilungen Pflegen
mit einem Ton hochmüthiger Ueberlegenheit und gelegentlich auch rohester
Gehässigkeit vorgebracht zu werden, wie es schlimmer selbst der Curialstil des
unfehlbaren Papstes nicht zu leisten versteht." Der Verfasser mahnt an
Buddha's Spruch: "Der Religionen sind viele, alle sind verschieden, die Ver¬
nunft ist nur eine, wir alle sind Brüder." Er erinnert daran, daß die
Wahrheit nur durch die freieste Prüfung gefunden werden könne, die gefundene
Wahrheit Gemeingut der Menschheit werden müsse. Ich aber wiederhole,
daß wir eine Probe auf die Wahrheit daran haben, ob sie der Welt zum
Heile gereicht. Das ist aber wahrlich mit den Doctrinen des Materialismus
nicht der Fall. Sie sind unschädlich, so lang das Herz, der sittliche Kern der
Menschen besser ist, als die Theorie; aber wird diese mächtig in der Seele, so
ist jeder Leidenschaft und Selbstsucht Thor und Thür geöffnet, denn unsre
Thaten sind dann ja das Ergebniß des Stoffwechsels und wir können nichts
dazu; der Unterschied von Vernünftig und Unvernünftig, von Gut und Böse
hat aufgehört. Freilich, wie kommen wir je dazu ihn zu machen? Weil wir
mehr sind als das Ergebniß blindwaltender selbstloser Atomkräfte, vielmehr
einheitlich selbstseiende realideale Wesen.

Sehr anziehend sind die Vorträge: Geld und Geist, Bildung und Glück.
Der materielle Zug unsrer Zeit erhält sein Recht und seine Grenze. Die
Männer des Geistes werden darauf hingewiesen, daß sie in ihrer Arbeit selbst
schon einen edlen Lohn haben, und sich dem Fabrikanten oder Kaufmann
gegenüber in Hinsicht auf Geldgewinn bescheiden sollen. Es wird betont, daß
das Geld ein nothwendiges Mittel zum Leben ist, aber seinen Werth erst durch
die Art erhält, wie man das Leben nimmt. "Den Glücksdurst -- bemerkt Schopen-


Empfindung verwerthen, um die religiöse Gleichgiltigkeit der Männerwelt
zu überwinden.

Zur Darlegung echter und falscher Toleranz macht Meyer eine Wande¬
rung durch die Weltgeschichte, und zeigt wie vornehmlich Philosophen die
Helden und Märtyrer der Geistesfreiheit waren. Er warnt die Gegenwart
davor: in jedem Geistlichen einen Pfaffen, in jedem Mann der Wissenschaft
einen Atheisten zu sehn; er eifert gegen die Intoleranz der Halbbildung unsrer
Tage, die mit den Ultramontanen wetteifert. Da gelte es für Angehörigkeit
zu einer längst überwundenen Denkschicht, wenn man von Gott und Ver¬
suchung rede, da solle man Atheist oder „Monist" sein, wenn man für
wissenschaftlich gelten wolle. „Man muß annehmen, daß erst der Kampf
ums Dasein Vernunft und zweckmäßige Ordnung in die Welt gebracht hat
und fortdauernd bringt; wer glaubt, daß die Welt schon von vornherein
zweckdurchdrungen angelegt war und deshalb auf einen vernünftigen Urquell
hinweist, denkt Veraltetes, wenn er sich nicht etwa bezwingt diesen Urquell als
das somnambule Unbewußte zu verehren. Und solche Verurtheilungen Pflegen
mit einem Ton hochmüthiger Ueberlegenheit und gelegentlich auch rohester
Gehässigkeit vorgebracht zu werden, wie es schlimmer selbst der Curialstil des
unfehlbaren Papstes nicht zu leisten versteht." Der Verfasser mahnt an
Buddha's Spruch: „Der Religionen sind viele, alle sind verschieden, die Ver¬
nunft ist nur eine, wir alle sind Brüder." Er erinnert daran, daß die
Wahrheit nur durch die freieste Prüfung gefunden werden könne, die gefundene
Wahrheit Gemeingut der Menschheit werden müsse. Ich aber wiederhole,
daß wir eine Probe auf die Wahrheit daran haben, ob sie der Welt zum
Heile gereicht. Das ist aber wahrlich mit den Doctrinen des Materialismus
nicht der Fall. Sie sind unschädlich, so lang das Herz, der sittliche Kern der
Menschen besser ist, als die Theorie; aber wird diese mächtig in der Seele, so
ist jeder Leidenschaft und Selbstsucht Thor und Thür geöffnet, denn unsre
Thaten sind dann ja das Ergebniß des Stoffwechsels und wir können nichts
dazu; der Unterschied von Vernünftig und Unvernünftig, von Gut und Böse
hat aufgehört. Freilich, wie kommen wir je dazu ihn zu machen? Weil wir
mehr sind als das Ergebniß blindwaltender selbstloser Atomkräfte, vielmehr
einheitlich selbstseiende realideale Wesen.

Sehr anziehend sind die Vorträge: Geld und Geist, Bildung und Glück.
Der materielle Zug unsrer Zeit erhält sein Recht und seine Grenze. Die
Männer des Geistes werden darauf hingewiesen, daß sie in ihrer Arbeit selbst
schon einen edlen Lohn haben, und sich dem Fabrikanten oder Kaufmann
gegenüber in Hinsicht auf Geldgewinn bescheiden sollen. Es wird betont, daß
das Geld ein nothwendiges Mittel zum Leben ist, aber seinen Werth erst durch
die Art erhält, wie man das Leben nimmt. „Den Glücksdurst — bemerkt Schopen-


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[0195] Empfindung verwerthen, um die religiöse Gleichgiltigkeit der Männerwelt zu überwinden. Zur Darlegung echter und falscher Toleranz macht Meyer eine Wande¬ rung durch die Weltgeschichte, und zeigt wie vornehmlich Philosophen die Helden und Märtyrer der Geistesfreiheit waren. Er warnt die Gegenwart davor: in jedem Geistlichen einen Pfaffen, in jedem Mann der Wissenschaft einen Atheisten zu sehn; er eifert gegen die Intoleranz der Halbbildung unsrer Tage, die mit den Ultramontanen wetteifert. Da gelte es für Angehörigkeit zu einer längst überwundenen Denkschicht, wenn man von Gott und Ver¬ suchung rede, da solle man Atheist oder „Monist" sein, wenn man für wissenschaftlich gelten wolle. „Man muß annehmen, daß erst der Kampf ums Dasein Vernunft und zweckmäßige Ordnung in die Welt gebracht hat und fortdauernd bringt; wer glaubt, daß die Welt schon von vornherein zweckdurchdrungen angelegt war und deshalb auf einen vernünftigen Urquell hinweist, denkt Veraltetes, wenn er sich nicht etwa bezwingt diesen Urquell als das somnambule Unbewußte zu verehren. Und solche Verurtheilungen Pflegen mit einem Ton hochmüthiger Ueberlegenheit und gelegentlich auch rohester Gehässigkeit vorgebracht zu werden, wie es schlimmer selbst der Curialstil des unfehlbaren Papstes nicht zu leisten versteht." Der Verfasser mahnt an Buddha's Spruch: „Der Religionen sind viele, alle sind verschieden, die Ver¬ nunft ist nur eine, wir alle sind Brüder." Er erinnert daran, daß die Wahrheit nur durch die freieste Prüfung gefunden werden könne, die gefundene Wahrheit Gemeingut der Menschheit werden müsse. Ich aber wiederhole, daß wir eine Probe auf die Wahrheit daran haben, ob sie der Welt zum Heile gereicht. Das ist aber wahrlich mit den Doctrinen des Materialismus nicht der Fall. Sie sind unschädlich, so lang das Herz, der sittliche Kern der Menschen besser ist, als die Theorie; aber wird diese mächtig in der Seele, so ist jeder Leidenschaft und Selbstsucht Thor und Thür geöffnet, denn unsre Thaten sind dann ja das Ergebniß des Stoffwechsels und wir können nichts dazu; der Unterschied von Vernünftig und Unvernünftig, von Gut und Böse hat aufgehört. Freilich, wie kommen wir je dazu ihn zu machen? Weil wir mehr sind als das Ergebniß blindwaltender selbstloser Atomkräfte, vielmehr einheitlich selbstseiende realideale Wesen. Sehr anziehend sind die Vorträge: Geld und Geist, Bildung und Glück. Der materielle Zug unsrer Zeit erhält sein Recht und seine Grenze. Die Männer des Geistes werden darauf hingewiesen, daß sie in ihrer Arbeit selbst schon einen edlen Lohn haben, und sich dem Fabrikanten oder Kaufmann gegenüber in Hinsicht auf Geldgewinn bescheiden sollen. Es wird betont, daß das Geld ein nothwendiges Mittel zum Leben ist, aber seinen Werth erst durch die Art erhält, wie man das Leben nimmt. „Den Glücksdurst — bemerkt Schopen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/195>, abgerufen am 02.10.2024.