Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Wissen. Der Specialforscher, der dies verkennt, thut nur wissenschaftliche
Handlangerdienste. Der Mann der Wissenschaft soll der Beziehung nicht
blos zu andern Wissenschaften, sondern zum gesammten Culturleben des
Volkes sich gegenwärtig halten; dadurch bleibt die Wissenschaft selbst gesund.
Zur Bildung gehört Kenntnißnahme des allgemein Missenswerthen und dessen
innere Verarbeitung zur geistigen und sittlichen Selbstveredlung. Dies ist der
Grundsatz des Verfassers.

In Bezug auf die Frauenfrage stellt er sich auf den Standpunkt der
Psychologie, und nachdem er die Leistungen berühmter Frauen betrachtet hat,
wendet er sich zum Vergleich der Frauen- und Mannesseele. Das Wort
Sybel's gegen Mill nennt er ein treffendes, daß der Mann logisch, die Frau
instinctiv und intuitio denke, bemerkt aber, daß der Mann das Jnstinctive so
wenig missen dürfe wie die Frau das Logische. Auch sei die Frau willens¬
stark und ausdauernd wie der Mann, ja in ihrem Gebiet ihm überlegen,
aber sie sei es durch Betheiligung ihres Gefühls, während der staatliche und
bürgerliche Beruf des Mannes sein Denken und Wollen ohne Rücksicht auf
das Gemüth, ja oft gegen sein Gefühl fordre. Ist ihr Gemüth unbetheiligt,
dann denkt die Frau so scharf wie der Mann. So sind beide Geschlechter für
verschiedene Lebensgebiete organisirt. "Sind beim Mann Verstand und Wille
brauchbarer für einen größeren Kreis von Lebenszwecken, so hat dafür die
Frau durch die leichtere Erregbarkeit ihres Gefühls und den damit verbundenen
Sinn für Harmonie und Schönheit den Vorzug, in der Ausgleichung der bei
dem Manne leicht einseitigen Kraftbetheiligung das rein Menschliche in an¬
muthigerer Erscheinung darzustellen und gerade dadurch den wohlthätigsten
Einfluß auf die Culturentwickelung der Menschheit auszuüben." Bei der
Aufnahme des Christenthums wie der humanen Bildung traten die Frauen
vornehmlich hervor; Meyer hätte auch an ihren Herzensanthetl an der neu¬
eren deutschen Poesie und an ihren Einfluß auf Goethe und Schiller erinnern
können; er sagt: "Sie erscheinen wie das gute Gewissen auf der Bühne des
öffentlichen Lebens, wenn es gilt einem neuen Lebenszüge freie Bahn zu
schaffen." Andrerseits trägt die Leichtfertigkeit der Frauen eine Hauptschuld
am Verfall des Volkes, wenn das Familienwohl, die Reinheit der Sitte
unterwühlt wird. In der Culturarbeit Deutschlands haben die Frauen die
Aufgabe, das Heiligthum des Hauses zu hüten, dem überwuchernden Utilis-
mus und der engherzigen Fachgelehrsamkeit gegenüber an die idealen Güter
gemeinsamer Menschenbildung zu erinnern, die Männer zu unterstützen, welche
die Fahne des Idealismus hochhalten, und mitzuwirken, daß der entbrannte
Entwicklungskampf der Religion unserm Volk und damit auch der Mensch¬
heit zum Segen gereiche. Sie werden dies thun, wenn sie durch Geistesbildung
sich von blindem Autoritätsglauben frei machen, und zugleich die Wärme ihrer


Wissen. Der Specialforscher, der dies verkennt, thut nur wissenschaftliche
Handlangerdienste. Der Mann der Wissenschaft soll der Beziehung nicht
blos zu andern Wissenschaften, sondern zum gesammten Culturleben des
Volkes sich gegenwärtig halten; dadurch bleibt die Wissenschaft selbst gesund.
Zur Bildung gehört Kenntnißnahme des allgemein Missenswerthen und dessen
innere Verarbeitung zur geistigen und sittlichen Selbstveredlung. Dies ist der
Grundsatz des Verfassers.

In Bezug auf die Frauenfrage stellt er sich auf den Standpunkt der
Psychologie, und nachdem er die Leistungen berühmter Frauen betrachtet hat,
wendet er sich zum Vergleich der Frauen- und Mannesseele. Das Wort
Sybel's gegen Mill nennt er ein treffendes, daß der Mann logisch, die Frau
instinctiv und intuitio denke, bemerkt aber, daß der Mann das Jnstinctive so
wenig missen dürfe wie die Frau das Logische. Auch sei die Frau willens¬
stark und ausdauernd wie der Mann, ja in ihrem Gebiet ihm überlegen,
aber sie sei es durch Betheiligung ihres Gefühls, während der staatliche und
bürgerliche Beruf des Mannes sein Denken und Wollen ohne Rücksicht auf
das Gemüth, ja oft gegen sein Gefühl fordre. Ist ihr Gemüth unbetheiligt,
dann denkt die Frau so scharf wie der Mann. So sind beide Geschlechter für
verschiedene Lebensgebiete organisirt. „Sind beim Mann Verstand und Wille
brauchbarer für einen größeren Kreis von Lebenszwecken, so hat dafür die
Frau durch die leichtere Erregbarkeit ihres Gefühls und den damit verbundenen
Sinn für Harmonie und Schönheit den Vorzug, in der Ausgleichung der bei
dem Manne leicht einseitigen Kraftbetheiligung das rein Menschliche in an¬
muthigerer Erscheinung darzustellen und gerade dadurch den wohlthätigsten
Einfluß auf die Culturentwickelung der Menschheit auszuüben." Bei der
Aufnahme des Christenthums wie der humanen Bildung traten die Frauen
vornehmlich hervor; Meyer hätte auch an ihren Herzensanthetl an der neu¬
eren deutschen Poesie und an ihren Einfluß auf Goethe und Schiller erinnern
können; er sagt: „Sie erscheinen wie das gute Gewissen auf der Bühne des
öffentlichen Lebens, wenn es gilt einem neuen Lebenszüge freie Bahn zu
schaffen." Andrerseits trägt die Leichtfertigkeit der Frauen eine Hauptschuld
am Verfall des Volkes, wenn das Familienwohl, die Reinheit der Sitte
unterwühlt wird. In der Culturarbeit Deutschlands haben die Frauen die
Aufgabe, das Heiligthum des Hauses zu hüten, dem überwuchernden Utilis-
mus und der engherzigen Fachgelehrsamkeit gegenüber an die idealen Güter
gemeinsamer Menschenbildung zu erinnern, die Männer zu unterstützen, welche
die Fahne des Idealismus hochhalten, und mitzuwirken, daß der entbrannte
Entwicklungskampf der Religion unserm Volk und damit auch der Mensch¬
heit zum Segen gereiche. Sie werden dies thun, wenn sie durch Geistesbildung
sich von blindem Autoritätsglauben frei machen, und zugleich die Wärme ihrer


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0194" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/135247"/>
          <p xml:id="ID_529" prev="#ID_528"> Wissen. Der Specialforscher, der dies verkennt, thut nur wissenschaftliche<lb/>
Handlangerdienste. Der Mann der Wissenschaft soll der Beziehung nicht<lb/>
blos zu andern Wissenschaften, sondern zum gesammten Culturleben des<lb/>
Volkes sich gegenwärtig halten; dadurch bleibt die Wissenschaft selbst gesund.<lb/>
Zur Bildung gehört Kenntnißnahme des allgemein Missenswerthen und dessen<lb/>
innere Verarbeitung zur geistigen und sittlichen Selbstveredlung. Dies ist der<lb/>
Grundsatz des Verfassers.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_530" next="#ID_531"> In Bezug auf die Frauenfrage stellt er sich auf den Standpunkt der<lb/>
Psychologie, und nachdem er die Leistungen berühmter Frauen betrachtet hat,<lb/>
wendet er sich zum Vergleich der Frauen- und Mannesseele. Das Wort<lb/>
Sybel's gegen Mill nennt er ein treffendes, daß der Mann logisch, die Frau<lb/>
instinctiv und intuitio denke, bemerkt aber, daß der Mann das Jnstinctive so<lb/>
wenig missen dürfe wie die Frau das Logische. Auch sei die Frau willens¬<lb/>
stark und ausdauernd wie der Mann, ja in ihrem Gebiet ihm überlegen,<lb/>
aber sie sei es durch Betheiligung ihres Gefühls, während der staatliche und<lb/>
bürgerliche Beruf des Mannes sein Denken und Wollen ohne Rücksicht auf<lb/>
das Gemüth, ja oft gegen sein Gefühl fordre. Ist ihr Gemüth unbetheiligt,<lb/>
dann denkt die Frau so scharf wie der Mann. So sind beide Geschlechter für<lb/>
verschiedene Lebensgebiete organisirt. &#x201E;Sind beim Mann Verstand und Wille<lb/>
brauchbarer für einen größeren Kreis von Lebenszwecken, so hat dafür die<lb/>
Frau durch die leichtere Erregbarkeit ihres Gefühls und den damit verbundenen<lb/>
Sinn für Harmonie und Schönheit den Vorzug, in der Ausgleichung der bei<lb/>
dem Manne leicht einseitigen Kraftbetheiligung das rein Menschliche in an¬<lb/>
muthigerer Erscheinung darzustellen und gerade dadurch den wohlthätigsten<lb/>
Einfluß auf die Culturentwickelung der Menschheit auszuüben." Bei der<lb/>
Aufnahme des Christenthums wie der humanen Bildung traten die Frauen<lb/>
vornehmlich hervor; Meyer hätte auch an ihren Herzensanthetl an der neu¬<lb/>
eren deutschen Poesie und an ihren Einfluß auf Goethe und Schiller erinnern<lb/>
können; er sagt: &#x201E;Sie erscheinen wie das gute Gewissen auf der Bühne des<lb/>
öffentlichen Lebens, wenn es gilt einem neuen Lebenszüge freie Bahn zu<lb/>
schaffen." Andrerseits trägt die Leichtfertigkeit der Frauen eine Hauptschuld<lb/>
am Verfall des Volkes, wenn das Familienwohl, die Reinheit der Sitte<lb/>
unterwühlt wird. In der Culturarbeit Deutschlands haben die Frauen die<lb/>
Aufgabe, das Heiligthum des Hauses zu hüten, dem überwuchernden Utilis-<lb/>
mus und der engherzigen Fachgelehrsamkeit gegenüber an die idealen Güter<lb/>
gemeinsamer Menschenbildung zu erinnern, die Männer zu unterstützen, welche<lb/>
die Fahne des Idealismus hochhalten, und mitzuwirken, daß der entbrannte<lb/>
Entwicklungskampf der Religion unserm Volk und damit auch der Mensch¬<lb/>
heit zum Segen gereiche. Sie werden dies thun, wenn sie durch Geistesbildung<lb/>
sich von blindem Autoritätsglauben frei machen, und zugleich die Wärme ihrer</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0194] Wissen. Der Specialforscher, der dies verkennt, thut nur wissenschaftliche Handlangerdienste. Der Mann der Wissenschaft soll der Beziehung nicht blos zu andern Wissenschaften, sondern zum gesammten Culturleben des Volkes sich gegenwärtig halten; dadurch bleibt die Wissenschaft selbst gesund. Zur Bildung gehört Kenntnißnahme des allgemein Missenswerthen und dessen innere Verarbeitung zur geistigen und sittlichen Selbstveredlung. Dies ist der Grundsatz des Verfassers. In Bezug auf die Frauenfrage stellt er sich auf den Standpunkt der Psychologie, und nachdem er die Leistungen berühmter Frauen betrachtet hat, wendet er sich zum Vergleich der Frauen- und Mannesseele. Das Wort Sybel's gegen Mill nennt er ein treffendes, daß der Mann logisch, die Frau instinctiv und intuitio denke, bemerkt aber, daß der Mann das Jnstinctive so wenig missen dürfe wie die Frau das Logische. Auch sei die Frau willens¬ stark und ausdauernd wie der Mann, ja in ihrem Gebiet ihm überlegen, aber sie sei es durch Betheiligung ihres Gefühls, während der staatliche und bürgerliche Beruf des Mannes sein Denken und Wollen ohne Rücksicht auf das Gemüth, ja oft gegen sein Gefühl fordre. Ist ihr Gemüth unbetheiligt, dann denkt die Frau so scharf wie der Mann. So sind beide Geschlechter für verschiedene Lebensgebiete organisirt. „Sind beim Mann Verstand und Wille brauchbarer für einen größeren Kreis von Lebenszwecken, so hat dafür die Frau durch die leichtere Erregbarkeit ihres Gefühls und den damit verbundenen Sinn für Harmonie und Schönheit den Vorzug, in der Ausgleichung der bei dem Manne leicht einseitigen Kraftbetheiligung das rein Menschliche in an¬ muthigerer Erscheinung darzustellen und gerade dadurch den wohlthätigsten Einfluß auf die Culturentwickelung der Menschheit auszuüben." Bei der Aufnahme des Christenthums wie der humanen Bildung traten die Frauen vornehmlich hervor; Meyer hätte auch an ihren Herzensanthetl an der neu¬ eren deutschen Poesie und an ihren Einfluß auf Goethe und Schiller erinnern können; er sagt: „Sie erscheinen wie das gute Gewissen auf der Bühne des öffentlichen Lebens, wenn es gilt einem neuen Lebenszüge freie Bahn zu schaffen." Andrerseits trägt die Leichtfertigkeit der Frauen eine Hauptschuld am Verfall des Volkes, wenn das Familienwohl, die Reinheit der Sitte unterwühlt wird. In der Culturarbeit Deutschlands haben die Frauen die Aufgabe, das Heiligthum des Hauses zu hüten, dem überwuchernden Utilis- mus und der engherzigen Fachgelehrsamkeit gegenüber an die idealen Güter gemeinsamer Menschenbildung zu erinnern, die Männer zu unterstützen, welche die Fahne des Idealismus hochhalten, und mitzuwirken, daß der entbrannte Entwicklungskampf der Religion unserm Volk und damit auch der Mensch¬ heit zum Segen gereiche. Sie werden dies thun, wenn sie durch Geistesbildung sich von blindem Autoritätsglauben frei machen, und zugleich die Wärme ihrer

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/194
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 35, 1876, I. Semester, I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341823_157636/194>, abgerufen am 19.10.2024.